NEIN zur Kürzungspolitik bei der Dresdner Schulsozialarbeit
Der Dresdner OB Dirk Hilbert plant die drastische Kürzung der Schulsozialarbeit für Dresdner Schulen, um eine Haushaltslücke zu stopfen. Dem muss Einhalt geboten werden!

Das heute medial besprochene neueste Schulbarometer der Robert Bosch Stiftung in Zusammenarbeit mit der Universität Leipzig kommt deshalb zur rechten Zeit: Die renommierte Stiftung führte eine repräsentative Umfrage unter Schülerinnen und Schülern und Eltern durch, um künftig in einer jährlich evaluierten (Panel)Studie die aktuelle Stimmungslage und aktuelle Herausforderungen im Bildungsbereich zu eruieren und frühzeitig negative Entwicklungen zu beschreiben.
Im Fokus dieser brandaktuellen Studie steht das psychische und schulische Wohlbefinden von Kindern (8-10 Jahre) und Jugendlichen (11-17 Jahre) und ihren Erziehungsberechtigten in Deutschland, die von der Stiftung als zu häufig vernachlässigte Akteursgruppe bezeichnet wird - in meinen Augen und aus eigenen Erfahrungen völlig zu recht. Darüber hinaus stehen im Fokus:
Einschätzung der Unterrichtsqualität und der Beziehungsqualität zu den Lehrkräften, psychosoziale Hilfsangebote sowie Barrieren an Schule. Von ihren Erziehungsberechtigten werden wir neben umfangreichen soziodemografischen Daten auch ihre Einschätzung zum psychischen und schulischen Wohlbefinden ihrer Kinder sowie zu psychosozialen Versorgungsstrukturen inner- und außerhalb von Schule erfassen.
Erfasste Konstrukte waren hierbei:
- Psychische Auffälligkeiten
- Einschätzung der Lebensqualität
- Aktuelle Sorgen und Belastungen
- Schulisches Wohlbefinden
- Bewertung der Schule
- Bewertung der Unterrichtsqualität
- Klassenleitungsstunde
- Unterrichtsausfall
- Hilfesucheverhalten
- Einstellungen, Barrieren und Wissen zu psychischer
- Gesundheit und Hilfsangeboten
"Wohlbefinden und Verhalten, Schule und Unterricht, Hilfebedarfe und Hilfsangebote:
Ein Schwerpunkt der Studie: der Zusammenhang zwischen Unterricht und psychischer Gesundheit. Zentral für das schulische Wohlbefinden, so die Ergebnisse, sind die konstruktive Unterstützung durch die Lehrkräfte und eine gute Klassenführung. Doch gerade hier gibt es Luft nach oben: Viele Schüler:innen berichten von häufigen Unterrichtsstörungen und dass die Mehrheit der Lehrkräfte nicht nachfragt, was man schon verstanden hat und was noch nicht. Die Studie beleuchtet auch, wie die Erziehungsberechtigten mit dem Thema psychische Gesundheit umgehen und welche Hilfsangebote sie für ihr Kind in Anspruch nehmen. Dabei zeigt sich, dass bis zu einem Drittel der Eltern die Hilfestrukturen an der Schule ihrer Kinder nicht kennen."
Demnach berichten 41 % der Schülerinnen und Schüler, dass keine oder nur wenige Lehrkräfte überhaupt nachfragen, was bereits verstanden wurde oder noch nicht verstanden wurde. 83 % der Schülerinnen und Schüler berichten von häufigen Unterrichtsstörungen.
Ergänzende Hilfestrukturen sind hier beispielsweise Schulsozialarbeiterinnen und -arbeiter auch in Grundschulen und Gymnasien. Dresden hat solche Strukturen sukzessive in den vergangenen Jahrzehnten vor allem auch durch eine rot-rot-grüne Stadtpolitik von Linken, SPD und Grünen auf- und ausgebaut. Besorgniserregend ist zudem der gewachsene Leistungsdruck für die SuS und das immer noch unterhalb des Vor-Corona-Niveaus liegende Wohlbefinden der Kinder und Jugendlichen.
Ein Viertel der Jugendlichen schätzt die eigene Lebensqualität als gering ein. Zwei Drittel bewerten sie als mittel und nur sechs Prozent als hoch. Ungefähr ein Fünftel der Schüler:innen bezeichnet sich selbst als psychisch belastet. Ebenso viele klagen über ein geringes schulisches Wohlbefinden, bei Kindern aus Familien mit niedrigem Einkommen sogar knapp jedes Dritte. Die Kriege in der Welt, der Leistungsdruck in der Schule, die globale Klimakrise und die Ängste vor der eigenen Zukunft bereiten ihnen die meisten Sorgen.
Zitate aus:
Robert Bosch Stiftung (2024). Deutsches Schulbarometer: Befragung
Schüler:innen. Ergebnisse von 8- bis 17-Jährigen und ihren Erziehungsberechtigten zu Wohlbefinden, Unterrichtsqualität und Hilfesuchverhalten.
Robert Bosch Stiftung.
Die Petition zur Unterstützung der Schulsozialarbeit an Dresdner Schulen gegen "die Liste der Grausamkeiten" von OB Dirk Hilbert kann hier unterzeichnet werden: https://www.dresden.de/de/leben/gesellschaft/buergebeteiligung/epetition.php?extForwardUrl=https%3A//apps.dresden.de/ords/f%3Fp%3D1610%3A3%3A%3A%3ANO%3A%3AP3_P_ID%3A23430
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Im 3. Teil der Serie wurde eine Replik auf Eva Illouz' jüngsten Essay "Der 8. Oktober" mit deren Kritik an Judith Butler und der french theory erarbeitet, nun soll Eva Illouz' Perspektive aufgezeigt werden. Ihre Vorstellungen über ein liberales Israel schrieb Eva Illouz in ihrer Essaysammlung "Israel" nieder, so dass dieses 2015 erschienene Buch und Interviews als Grundlage dieses Blogbeitrages dienen. "Ich gestehe, dass ich mich manchmal zwischen kultureller Selbstgefälligkeit und kulturellem Opferstatus nach weniger engen Identitätsmustern gesehnt habe, nach der (privilegierten) kosmopolitischen Erfahrung Marokkos, nach dem egalitären Universalismus Frankreichs oder nach den multiplen Bindestrich-Identitäten der Vereinigten Staaten - vielleicht, weil einzig eine erweiterte Vorstellung von der Menschheit und das Bekenntnis zu klaren und starken universalistischen Werten eine Nation neu zu inspirieren vermag, die ihrer Ethnien überdrüssig ist." [Eva Illouz: Israel. Suhrkamp: 2015, S. 167 f.] "Israel" erschien im Jahr 2015 Das Buch "Israel" stellt eine Sammlung von Beiträgen von Eva Illouz dar, die von 2011 bis 2014 in der israelischen Zeitung "Ha'aretz" publiziert wurden. Die Soziologin stellt dem israelischen Modell den französischen Laizismus und ein auf Universalismus basierendes Wertesystem gegenüber. Sie verweist darauf, dass jüdische Einwanderer aus orientalischen Ländern in Frankreich innerhalb einer Generation gesellschaftlich aufsteigen konnten und angesehene Positionen erreichten. Im Gegensatz dazu sieht sie in Israel weiterhin eine Form von Diskriminierung: Juden europäischer Herkunft (Aschkenasim) würden gegenüber jenen aus Nordafrika oder dem Irak (Mizrachim) privilegiert behandelt. Noch stärker sei laut Illouz die Benachteiligung nichtjüdischer Bürger Israels. Anhand konkreter Beispiele zeigt sie, dass arabische Israelis vom Zugang zu staatlicher Repräsentation, Landbesitz, Bürgerrechten und Bildung weitgehend ausgeschlossen seien. Ihrer Analyse zufolge fördert der jüdische Glaube eine strikte Trennung zwischen Juden und Nichtjuden, wodurch es ihm an Grundlagen für ein liberales Gemeinwesen mangele. Illouz plädiert daher für die Achtung von Menschenrechten, für Offenheit und universelle Werte – Prinzipien, die jüdischen Gemeinschaften historisch Schutz und Stärke verliehen hätten. Doch gerade diese Elemente fehlten ihrer Ansicht nach im heutigen israelischen Staat. Trotz ihrer Kritik bleibt Illouz dem Land emotional verbunden. Sie ruft zu einer zeitgemäßen Neudefinition jüdischer Identität und gesellschaftlicher Strukturen auf. Dazu gehören unter anderem die Abschwächung militärischer Vorherrschaft, die Trennung von Religion und Staat, die Überwindung ethnischer Ausschließung sowie der Verzicht auf politische Instrumentalisierung von kollektiver Trauer und Angst. Ihre Kritik an Israel ist dabei nicht polemisch, sondern analytisch fundiert, differenziert und von persönlicher Anteilnahme getragen. Prämisse: Souveränität Israels Nicht nur haben die Juden ein Recht auf eine nationale Heimstätte, sie haben sogar ein größeres moralisches Recht darauf als die meisten anderen Völker, weil sie auf die längste und eine der leidvollsten Verfolgungsgeschichten der Menschheit zurückblicken. Ein paar Tausend Jahre Exil und unbarmherzige Verfolgungen erlegen der Welt, das heißt der nichtjüdischen Welt, die moralische Verpflichtung auf, dafür zu sorgen, dass das Recht der Juden auf ein Territorium und nationale Souveränität niemals infrage gestellt wird. [Eva Illouz: Israel. Suhrkamp: 2015, S. 8] Nation und Identität Eva Illouz sieht Israel als ein Projekt, in welchem jüdische Identität, Erinnerung und Sicherheit zentral bleiben müssen. Das Zusammenleben von Juden und Nicht-Juden in Israel steht im Mittelpunkt: Koexistenz, Minderheitenrechte, Integration versus Abgrenzung. Eva Illouz betont die Realität von Gewalt, Trauma und kollektiver Verwundung und wie diese das Zusammenleben strukturieren. Dabei klammert Eva Illouz die affektive Dimension nicht aus, sondern beschreibt, wie Gefühle wie Angst, Solidarität, Misstrauen die sozialen Beziehungen zwischen Juden und NIcht-Juden prägen und sie zeigt damit praktische Vorstellungen vom Zusammenleben. Eva Illouz’ Sammelband "Israel" ist eine scharfsinnige, soziologisch fundierte Analyse der politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen in Israel. Die Texte sind teils autobiografisch, teils analytisch, und sie verbinden persönliche Erfahrungen mit struktureller Kritik. Rückfall in die Vormoderne Sie warnt vor einer zunehmenden Identifikation mit Ethnie und Religion, die den liberalen Charakter Israels untergräbt. Die Demokratie werde durch religiösen Nationalismus und ethnische Exklusivität gefährdet. Auf die Frage in einem taz-Interview zu ihrer Einschätzung der Wirkkraft linker Parteien wie der sozialdemokratischen Meretz und der kommunistischen jüdisch-arabischen Chadasch resümiert Eva Illouz kritisch: "Die Tatsache, dass die Rechte mit einigen kurzen Unterbrechungen 20 Jahre regiert hat, hat Denkstrukturen geformt, die schwer zu verändern sind. Dazu gehören der Nationalismus und das Misstrauen gegenüber Europa und inzwischen auch gegenüber den Vereinigten Staaten. Das macht es sehr schwer, die Israelis dazu zu bringen, Probleme überhaupt anzuerkennen und adäquat einzuordnen. Die sozialen Proteste vor fast vier Jahren waren diesbezüglich sehr interessant.(...)Es gelang ihr nicht [der Linken, mk], sich in eine wirkliche Protestbewegung zu transformieren, weil erstens im politischen Ethos Israels die Idee der Solidarität stark verankert ist. Zweitens gibt es keine Bürgergesellschaft, die den Namen verdient: Die Bürger haben keine Vorstellung davon, signifikant andere Interessen als die Regierung zu haben. Historisch wurde die Linke mit dem Staatsapparat identifiziert, sie entwickelte sich als regierende Partei, weswegen es sehr schwer für sie ist, ein Ethos des Protests zu entwickeln." [Aus taz: Eva Illouz über Israels Linke: "Sie hat keine starke soziale Vision." taz vom 16.07.2015] Zionismus mit kritischem Blick Eva Illouz bekennt sich zum Zionismus, sieht darin aber keinen Freibrief für politische Willkür. Sie argumentiert, dass Juden ein moralisches Recht auf eine Heimstätte haben – jedoch nicht auf Kosten eines anderen Volkes. Dieser Widerspruch zieht sich durch ihre Essays und wird nicht aufgelöst, sondern als ethisches Dilemma benannt. "Israel wurde nicht als universalistischer Staat gegründet, und die Linke hat es versäumt, Universalismus einzufordern. Bevor man Pluralist oder Multikulturalist sein kann, muss man ein universalistisches Gemeinwesen haben. Israel war zwar immer schon multikulturell, der Staat aber wurde mit einer ethnischen Gruppe identifiziert. (...) Viele der Gründer des israelischen Staats sahen die amerikanische Verfassung und das multikulturalistische Modell der Vereinigten Staaten als Vorbild, andere kamen aus Russland und Deutschland, wo die Idee des Universalismus stark mit den Bewegungen des Sozialismus und des Kommunismus verknüpft war. Der genuin französische Universalismus, in dessen Namen ich spreche, nimmt aber als Republikanismus Gestalt an: Der Staat ist der Ort, an dem das Gemeinwohl verwaltet wird. Bürgerrechte werden in abstrakten, neutralen Begriffen definiert. Staatsangehörigkeit ist eine Klammer für unterschiedliche Identitäten. Die französische Idee des Universalismus ist in Israel kaum bekannt." [Aus: Eva Illouz über Israels Linke: "Sie hat keine starke soziale Vision." taz vom 16.07.2015] Eva Illouz' Perspektive eines liberalen Israels Wird eine Religion, deren Vorschriften unter jahrhundertelangem Druck entstanden sind, zur dominanten Staatsreligion erhoben, kann dies problematisch werden. Was einst sinnvoll und nachvollziehbar war, kann sich als ungeeignet für die Anforderungen einer offenen, demokratischen Gesellschaft erweisen. Die Ideen, die Eva Illouz in dem Sammelband beschreibt, zielen auf zwei zentrale Reformansätze. Der erste betrifft die klare Trennung von Religion und Staat. Dabei soll die jüdische Tradition weiterhin respektiert werden – etwa durch die Beibehaltung des jüdischen Kalenders und die besondere Stellung jüdischer Feiertage und Symbole. Gleichzeitig sollen andere Glaubensrichtungen im öffentlichen Raum stärker anerkannt und sichtbar gemacht werden. Insbesondere muslimische Bürger sollten mehr Präsenz und Anerkennung erfahren. Es wäre notwendig, die Zuständigkeit für Eheschließungen und Scheidungen dem Rabbinat zu entziehen und stattdessen eine Zivilehe einzuführen. Der zweite Reformvorschlag betrifft das Militär: Die Einführung einer Berufsarmee könnte die gleichen sicherheitspolitischen Aufgaben erfüllen, ohne dabei den gesellschaftlichen und kulturellen Charakter Israels in vergleichbarem Maße zu beeinflussen. Verwendete Quellen: Eva Illouz: Israel. Soziologische Essays, edition suhrkamp 2683, Suhrkamp, Berlin 2015 Eva Illouz über Israels Linke: "Sie hat keine starke soziale Vision." taz vom 16.07.2015, letzter Zugriff: 19.10.2025

Relativierung versus Kontextualisierung Ein Vorwurf von Eva Illouz lautete, dass durch Konzepte wie "Diskurs", durch "Intersektionalität" und der Skepsis gegenüber "allgemeingültiger Wahrheiten" oder "universalistischer Gewissheiten" das Leid der Opfer in Israel nicht gleichwertig und nicht ausreichend anerkannt wird. Diese Sorge und Kritik ist berechtigt und sie ist wichtig. Betrachtet und analysiert werden muss, dass diese Kontextualisierung nicht benutzt wird, um konkretes Leid zu relativieren. Gewalt, Unrecht und Massaker wie das am 07.10.2023 sind real und sie erfordern moralische Verurteilung. Macht, Diskurs und deren historische Konditionen dienen nicht dazu, Verbrechen zu beschönigen oder zu relativieren, sondern um die Bedingungen zu verstehen: Wie sie möglich wurden, wer sie trägt, wer sie ermöglicht, wer sie instrumentalisiert. In Judith Butlers Verständnis heißt das, wenn die Taten der Hamas verurteilt werden, dann müssen gleichzeitig die längerfristigen politischen, sozialen und historischen Bedingungen mitgedacht werden. Besatzung ebenso wie globale Ungleichheit, Rassismus, religiöser Fanatismus, aber auch die Rolle westlicher Politik; internationale Waffenlieferungen, Propaganda in Medien usw. Nur wenn dies auf beiden Seiten analysiert und deskriptiv beschrieben wird, strukturell und unmittelbar, kann dies zu einer umfassenderen ethischen Verantwortung führen. Empathie darf nicht abhängig sein von vollständiger Transparenz. Ebenso wenig darf sie nicht blind werden für Manipulationen und Ungenauigkeiten. In ethischen Kontexten muss ein Spannungsverhältnis akzeptiert werden: Die Verpflichtung, Wahrheit zu suchen und zu prüfen, und gleichzeitig die moralische Verpflichtung, den Schmerz sichtbar zu machen. Universelle Ethik (Illouz) versus identitäre Politik (Butler) Eva Illouz beklagte im Essay den Verlust universaler Maßstäbe, wenn politische Emphase auf Identitäten gelegt werde. Im Sinne Judith Butlers kann dieser Universalismus leer oder sogar toxisch sein, wenn er historische Unterschiede, unterschiedliche Machtverhältnisse und ungleiche Erfahrungen und Perspektiven übersieht. Ein Universalismus, der alle Menschen denkt, aber die konkreten Bedürfnisse und Verletzungen von Minderheiten leugnet oder marginalisiert, ist kein starker Universalismus, sondern ein Universalismus, der Machtverhältnisse reproduziert. Intersektionalität ist mithin eine Ergänzung zum Universalismus, nicht dessen Gegensatz. Wenn gesagt wird, dass alle Menschen gleiche Rechte verdienen, dann heißt das auch, dass geprüft werden muss, wie bestimmte Gruppen durch spezifische historische und strukturelle Gewalt ausgeschlossen, entmenschlicht oder unsichtbar gemacht werden. Die historische Dimension des Zionismus Eva Illouz beschrieb den Zionismus als emanzipatorische und antirassistische Bewegung als Antwort auf Verfolgung, als säkulares und liberal-patriotisches Ideal und kritisiert die Gleichsetzung von Zionismus mit Kolonialismus. Zionismus hatte und hat unterschiedliche Ausprägungen. Einige sind historisch säkular, sozialistisch, humanistisch geprägt; andere ethno-nationalistisch, theokratisch und kolonialistisch. Es ist erforderlich, diese zu unterscheiden. Den legitimen Anspruch auf ein sicheres Zuhause und Selbstbestimmung für Jüdinnen und Juden heißt nicht, alle politischen Entscheidungen der israelischen Regierung kritiklos zu akzeptieren, insbesondere, wenn durch diese Entscheidungen eklatant Menschenrechte verletzt werden. Indifferenz und Schweigen Eva Illouz beklagt zurecht das lange Schweigen von Intellektuellen nach dem Massaker der Hamas am 07. Oktober 2023. Schweigen und Zurückhaltung war augenscheinlich Ausdruck moralischer Überforderung oder auch Angst vor politischer Instrumentalisierung, vielleicht auch Unsicherheit über das, was man angemessen darüber sagen kann. Diese moralische Verantwortung sollte nicht davor zurückschrecken, auch unangenehme Positionen einzunehmen, auch wenn das Kritik nach sich zieht. Es darf nicht passieren, dass Furcht vor Polarisierung die Pflicht zu Empathie und Gerechtigkeit ersetzt. Illouz Kritik der french theory In ihrem Essay Der 8. Oktober hat Eva Illouz der french theory vorgeworfen, sie habe ein Klima moralischer Relativierung geschaffen, in dem Antisemitismus gedeihe und in dem die Verurteilung des Massakers vom 07. Oktober 2023 unzureichend erscheine. Ihr Argument lautet im Kern: poststrukturalistische Ansätze wie jene von Foucault oder Derrida hätten die Grundlagen universeller Ethik zersetzt und eine intellektuelle Kultur befördert, in der das Leiden der Jüdinnen und Juden systematisch relativiert oder gar ausgeblendet werde. Diese Diagnose ist kraftvoll, aber sie ist zugleich wissenschaftlich problematisch. Sie beruht auf Verallgemeinerungen, die heterogene Theorietraditionen unter ein einziges Schlagwort stellen, und sie verkennt den normativen und politischen Gehalt kritischer Theorie. Im Folgenden möchte ich mit kurz skizzierten Aspekten zeigen, dass Illouz’ Kritik das Projekt der french theory falsch charakterisiert und damit gerade jene differenzierte Urteilsfähigkeit untergräbt, die sie selbst fordert. Fiktion einer homogenen Theorie Eva Illouz spricht von french theory so, als handle es sich um einen einheitlichen Diskurs. In Wirklichkeit bezeichnet der Begriff ein Sammelsurium unterschiedlicher Strömungen. Foucaults Analysen der Gouvernementalität und Biopolitik unterscheiden sich grundlegend von Derridas Dekonstruktion oder Bourdieus Feldtheorie. Diese Traditionen haben zwar Überschneidungen, doch sie folgen verschiedenen methodologischen und normativen Prämissen. Eine seriöse Kritik müsste präzisieren: Welche spezifischen Begriffe oder Argumentationsfiguren tragen zu welchem Problem bei? Indem Eva Illouz die Komplexität reduziert, erzeugt sie einen Scheinwiderspruch: eine amorphe "Theorie" als Feindbild, das dann für gesellschaftliche Missstände verantwortlich gemacht wird. Wissenschaftlich gesehen ist das ein Kategorienfehler. Kontextualisierung ist keine Relativierung Eva Illouz behauptet, poststrukturalistische Theorien führten zu moralischer Indifferenz. Tatsächlich analysieren sie jedoch die Bedingungen der Möglichkeit moralischer Urteile. Michel Foucault etwa zeigt, wie Diskurse Wahrheitsregime formen; Jacque Derrida weist darauf hin, dass jede Norm mit einem Rest an Nicht-Erfüllbarkeit behaftet ist. Diese Analysen beseitigen moralische Normativität nicht, sie vertiefen sie: Wer versteht, wie Macht Wissen produziert, kann auch kritischer einschätzen, welche Stimmen ausgeschlossen und welche Opfer unsichtbar gemacht werden. Eine Ethik, die sich blind auf "universelle Werte" beruft, ohne ihre historischen Einbettungen zu reflektieren, läuft Gefahr, bestehende Machtverhältnisse zu reproduzieren. Kontextualisierung ist daher die Bedingung einer robusteren moralischen Urteilskraft. Theorie und Empirie: ein falscher Gegensatz Eva Illouz wirft der "french theory" vor, sie sei anti-empirisch und verliere den Bezug zur Wirklichkeit. Doch viele ihrer Vertreterinnen und Vertreter betrieben und betreiben empirische Arbeit: Foucault in Archiven, Bourdieu in ethnographischen Feldstudien, Butler in der Analyse juristischer und medialer Praktiken. Das Missverständnis liegt darin, Theorie und Empirie als Gegensätze zu konstruieren. In Wahrheit gilt: Theorie strukturiert, was als empirische Evidenz zählt. Ohne theoretisches Raster gibt es keine Datenauswahl, keine Relevanzkriterien. Poststrukturalistische Ansätze verschieben die Frage: Welche Formen von Evidenz werden anerkannt, und welche werden systematisch delegitimiert? Das ist kein Abwenden von Empirie, sondern eine radikale Erweiterung empirischer Sensibilität. Universalismus durch Differenz Ein weiterer Kernvorwurf lautet, "french theory" habe den Universalismus zugunsten partikularer Identitätspolitik aufgegeben. Doch Universalismus ist nicht gefährdet durch die Anerkennung von Differenzen, sondern gerade auf sie angewiesen. Wenn gesagt wird, "alle Menschen sind gleich", bleibt dieser Satz leer, solange wir nicht aufzeigen, wie bestimmte Gruppen — z.B. Minderheiten — systematisch entrechtet werden. Intersektionale Analysen machen die blinden Flecken sichtbar, in denen Universalismus sonst abstrakt bleibt. Differenz ist daher kein Feind, sondern die Bedingung der Möglichkeit des Universalen. Der Vorwurf des "virtuosen Antisemitismus" Besonders scharf ist Eva Illouz’ These, die "french theory" habe einen "tugendhaften Antisemitismus" erzeugt — also eine intellektuell vornehme Form des Antisemitismus ("antisémitisme vertueux"). Das ist eine schwerwiegende Anschuldigung, die wissenschaftliche Evidenz erfordert. Doch Eva Illouz bietet keine systematischen Belege: keine empirischen Studien, die eine Kausalität zwischen theoretischer Ausbildung und antisemitischer Einstellung zeigen; keine Textanalysen, die den behaupteten Zusammenhang stringent begründen. Eine Kritik darf starke Begriffe verwenden, aber sie muss methodisch tragfähig sein. Wer theoretische Konzepte mit Antisemitismus gleichsetzt, läuft Gefahr, die notwendige Unterscheidung zu verwischen: zwischen legitimer Kritik an israelischer Politik und antisemitischer Feindseligkeit gegen Juden. Gerade poststrukturalistische Analyseinstrumente helfen, diese Unterscheidung schärfer zu ziehen, indem sie Diskurse differenziert analysieren. Verwendete Literatur: Eva Illouz, Der 8. Oktober. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2025 Michel Foucault, Archäologie des Wissens. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1973 Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1987 Jacques Derrida, Die Grammatologie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1983 Judith Butler, Raster des Krieges. Frankfurt a.M.: Campus, 2010

"Der 8. Oktober: Über die Genealogie eines sich überlegen dünkenden Hasses | Über die Ursprünge des neuen Antisemitismus"von Eva Illouz, Suhrkamp 2025 In ihrem Essay beschreibt Eva Illouz, dass Islamismus – insbesondere in seiner antiwestlichen Ausprägung – von Teilen der politischen Linken, darunter antiimperialistische Bewegungen in Europa und arabischen Ländern sowie von der Sowjetunion, nicht primär als religiöse Bewegung, sondern als antikolonialer Klassenkampf interpretiert wurde. Diese Sichtweise führte dazu, dass islamistische Akteure in bestimmten linken Milieus als legitime Widerstandskämpfer gegen westliche Hegemonie betrachtet wurden – trotz ihrer autoritären oder religiös-fundamentalistischen Ideologie. Islamismus als antikolonialer Klassenkampf Die Sowjetunion unterstützte in den 1950er–1980er Jahren zahlreiche antiimperialistische Bewegungen, darunter auch islamisch geprägte Gruppen, sofern sie gegen westliche Einflusssphären kämpften. In Teilen der europäischen Linken – besonders in postkolonialen und poststrukturalistischen Kreisen – wurde der Islamismus nicht als religiöser Fanatismus, sondern als Ausdruck von Widerstand gegen westlichen Kolonialismus und Kapitalismus gedeutet. "Dieser Neuinterpretation des Islams gelingt es, die Tatsache zu verschleiern, dass der Islamismus gleichzeitig eine Reaktion auf den Kolonialismus und eine mörderische Ideologie sein konnte, dass sein Widerstand gegen den Zionismus nationalistische und genozidale Ziele verfolgen konnte, dass der Terrorismus eine Reaktion auf Enteignung ebenso wie eine krankhafte Martyrologie ist. Aber der wohlmeinende und naive Ansatz der Linken fand Gehör. 1991 organisierte der Iran eine internationale Konferenz zur Unterstützung einer islamischen Revolution in Palästina. Diese Konferenz vereinigte die Hamas und die marxistischen Fraktionen der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) und bildete den bewussten Versuch einer Verschmelzung von Fundamentalisten und Linken unter der Ägide des Antiimperialismus." [Eva Illouz: Der 8. Oktober, S. 71] Illouz kritisiert, dass diese Lesart die autoritären, antisemitischen und patriarchalen Aspekte islamistischer Bewegungen oft ausblendet oder sie dadurch relativiert werden. Dem hält Eva Illouz entgegen, dass der Zionismus von Beginn an antirassistisch war, "weil er eine Antwort auf und ein Gegenmittel zu Verfolgung und Hass darstellte"; innerhalb des Mandats-Palästina hatten die Jüdinnen und Juden gegen die Briten ab 1939 einen antikolonialen Kampf geführt, aus Europa und arabischen Ländern waren sie durch Pogrome verfolgt dorthin geflohen. Angesiedelt und heimisch waren Jüdinnen und Juden in Palästina seit 3.000 Jahren. Illouz kritisiert diese ideologische Fehlentwicklung: Die Verklärung islamistischer Gewalt als revolutionärer Akt blendet autoritäre, antisemitische und patriarchale Aspekte aus – ein Symptom einer postmodernen Linken, die Diskurs über Fakten stellt. Die Linke ist es, die die menschliche Würde in den Mittelpunkt politischer Institutionen gerückt hat. Die Linke ist es, der wir unseren sozialen und moralischen Fortschritt verdanken. Wie also war es möglich, dass ein Teil der progressiven Linken mit Gleichgültigkeit oder Freude auf ein Massaker reagieren konnte, insbesondere an den Universitäten? Warum sind diese Künstler:innen, Professor:innen und Intellektuellen – die doch eigentlich auf der Seite der Menschlichkeit stehen sollten – in einem solchen Maße indifferent gegenüber einem Massaker an Juden und Jüdinnen geblieben? [Eva Illouz: Der 8. Oktober, S.15 f.] Selektives Mitleid Eva Illouz bezeichnet in diesem Essay auch Judith Butler als eine Intellektuelle der identitären Linken, die Universalismus, Ökonomie und Klasse zugunsten von Relativismus, "Rasse" und Kultur preisgegeben habe, "sowie darin, das Mantra der Intersektionalität herunterzubeten und aus Weiß eine schuldbeladene Farbe zu machen." In Beiträgen nach dem Terroranschlag der Hamas am 07. Oktober 2023 richtete Eva Illouz deutliche Worte an die Adresse von Judith Butler, beispielsweise nach der Diskussionsrunde eines Kollektivs antikolonialer und antizionistischer Vereinigungen am 3. März 2024 in Paris: "Ob es Belege für die Behauptungen gibt oder nicht, die über die Vergewaltigung israelischer Frauen gemacht wurden" – skeptische Grimasse – "okay, wenn es Belege gibt, dann beklagen und verurteilen wir das, absolut keine Frage. Aber wir wollen diese Belege sehen." Die skeptische Miene, die Butler bei diesen Worten machte, ist wohl die gleiche, die ein Polizist vor 50 Jahren machte, als eine Frau versuchte, Anzeige zu erstatten, und er Beweise für die an diesen Frauen begangenen Gräueltaten verlangte, obwohl es bereits eine schwindelerregende Menge an Beweisen gab. Judith Butler hat ihre Karriere darauf aufgebaut, Begriffe wie Objektivität, Essentialität und Wirklichkeit in Frage zu stellen. Aber jetzt verlangt sie eine Mega-Objektivität, einen Mega-Beweis, eine Objektivität jenseits der verfügbaren Rekonstruktionen, Bilder, Videos und forensischen Analysen." [Eva Illouz: Warum Judith Butler keine Linke ist. Der Freitag 11/2024 vom 12.03.2024] Eva Illouz beruft sich auf das anthropologische Mitgefühl und Mitleid mit Rousseau, Darwin und Schopenhauer um zu zeigen, dass Mitleid eine universelle menschliche Regung ist. Illouz sieht die postmoderne (french theory) "Theorie" als Ursache dieses Malus bei Butler, indem poststrukturalistische Denker wie Jaques Derrida, Michel Foucault und auch Judith Butler die Realität in "Diskurse" auflösen, wodurch ein Opferstatus nicht mehr objektiv, sondern relativ und kontextabhängig wird. In diesem Denken wird Mitleid nicht nach dem Leid selbst, sondern nach der Zugehörigkeit zu unterdrückten Gruppen verteilt. Juden, insbesondere in Israel, gelten in diesem Narrativ oft als "privilegiert" oder "kolonial", und werden daher vom Mitgefühl ausgeschlossen. Für Illouz ist Mitleid jedoch eine Form moralischer Anerkennung, die nicht ideologisch gefiltert werden darf. Doch in postmodernen Diskursen wird es nach Gruppenzugehörigkeit vergeben – nicht nach dem tatsächlichen Leid. Illouz kritisiert Judith Butler dabei als zentrale Figur dieser identitären Linken, die Objektivität und Wirklichkeit dekonstruiert – und nun, angesichts der Hamas-Verbrechen, eine überhöhte Beweislast fordert. Diese Haltung erscheint Illouz als symptomatisch für eine Theorie, die moralische Klarheit durch diskursive Skepsis ersetzt. Eva Illouz' methodische Kritik an der french theory Eva Illouz setzt sich mit der French Theory auseinander, indem sie Werke von Poststrukturalisten wie Jacques Derrida oder Michel Foucault kritisch betrachtet. Sie untersucht dabei deren Einfluss auf akademische Milieus und auf gesellschaftliche Phänomene wie den Umgang linker Intellektueller mit Juden im Kontext der Hamas-Angriffe und der Antisemitismusdebatte. Ihre Analyse orientiert sich an der Rolle französischer Theoretiker im US-amerikanischen Universitäts-Diskurs und reflektiert die Rezeption poststrukturalistischer Ideen. "In derselben Weise, wie Engel und Dämonen für Gläubige eine umso stärkere Realität sind, als diese unsichtbar bleibt, glichen die Schlüsselbegriffe der French Theory in ihrer Abstraktion dem unsichtbaren Gott und wurden durch ihre Institutionalisierung in der akademischen Ausbildung real. Die Universität ist eine so mächtige Institution wie die Kirche, wobei ihre Macht in der Verbindung besteht, die sie zwischen der Kernfamilie und dem ökonomischen Markt herstellt." [Eva Illouz: Der 8. Oktober, S. 42 f.] Pantextualismus Auffälligstes Merkmal ist der Pantextualismus, dass unsere Gesellschaft ein riesiges Netz aus Zeichen, Texten und Diskursen darstellt. Folge dessen ist, dass es nur Interpretationen von Wirklichkeit gibt, keine objektive Wirklichkeit. Mit Jaques Derridas Grammatologie und Dekonstruktion gibt es keine stabilen Bedeutungen in Texten, sondern alles werde zu einem Spiel der Bedeutungen in politischen Texten, in der Literatur und in der Alltagssprache. Wirklichkeit werde grammatisch konstruiert. "Aus der Hermeneutik – der Wissenschaft der Textinterpretation – ist eine Inszenierung von Dissens und Widerstand geworden, die an sich schon die emotionalen Aufwallungen der Empörung und der Anprangerung, das Drama der Provokation und die Umkehrung der Hierarchien beinhaltet. Vergleicht man den pouvoirisme mit den traditionellen soziologischen Machtkonzeptionen, treten die Probleme dieser Strategie deutlicher zutage." [Eva Illouz: Der 8. Oktober, S. 34] Eva Illouz beschreibt einige zentrale Begriffe von Michel Foucault, wie Diskursivität, Macht (pouvoirisme), "Disziplin", "Überwachung". Foucaults Vorstellung von Macht (pouvoirisme) als allgegenwärtigem, dezentralem Geflecht, das nicht von Institutionen ausgeht, sondern durch soziale Praktiken und Wissensordnungen wirkt, ist in ihren Augen problematisch, denn darin verbirgt sich eine ideologische Verschiebung: Wenn Macht überall ist und Wahrheit nur eine diskursive Formation, wird es unmöglich, Gewalt klar zu benennen oder moralisch zu verurteilen. Ebenso verhält es sich mit den zentralen foucaultschen Begriffen wie „Disziplin“, „Überwachung“ und „Normalisierung“, die Foucault zur Beschreibung moderner Gesellschaften entwickelt hat. Diese Begriffe erscheinen Eva Illouz als Teil eines theoretischen Rahmens, der zwar Herrschaft analysiert, aber zugleich die Unterscheidung zwischen Täter und Opfer relativiert. Illouz kritisiert, dass diese Denkweise in akademischen Milieus dazu geführt habe, jüdisches Leid – etwa nach dem Hamas-Massaker – nicht mehr als moralisch eindeutig zu erkennen, sondern als Teil eines diskursiven Spiels um Macht und Identität. Zusammenfassung Eva Illouz kritisierte vier Merkmale des postmodernen Denkstils nach der "french theory": 1. Symbolische Deduktion statt historischer Dialektik: Gesellschaft wird als Text gelesen, nicht als komplexes Geflecht widersprüchlicher Interessen. 2. Machtobsession: Macht wird als allgegenwärtiges Erklärungsmuster verwendet, oft ohne empirische Grundlage. 3. Superkritik: Ein Überbietungswettbewerb im Aufdecken von Unterdrückung, der jede positive Entwicklung (z. B. LGBTQ-Rechte in Israel) als Täuschung („pinkwashing“) abwertet. 4. Moralische Intuitionen: Urteile über Israel und Palästina werden als moralische Dogmen behandelt, die keiner Begründung mehr bedürfen und nicht falsifizierbar sind. Illouz’ Kritik ist also nicht eine Ablehnung der French Theory an sich, sondern eine Warnung vor ihrer ideologischen Instrumentalisierung. Sie plädiert für eine Rückbesinnung auf die "demokratischen Tugenden der Komplexität und der Wahrheit" und warnt davor, dass die politische Linke ihr humanistisches Fundament verliere, wenn sie sich von diesen Tugenden verabschiede. Credo von Eva Illouz Verliert die Linke ihre universalistische Ethik, verliert sie ihre Seele. Ihr Appell: Mitgefühl muss entideologisiert werden – das Menschsein gehört ins Zentrum jeder Ethik. Dieser 2. Teil war explizit dem Buch "Der 8. Oktober" von Eva Illouz gewidmet. Weiter geht es dialogisch im 3. Teil mit Judith Butler.

Die Original-Kachel des Tageschau-Postings bezieht sich auf April 2024, die 15 Minuten vor der Tagesschau-20 Uhr-Ausgabe in meiner Timeline aufgetaucht war. Deshalb kommentierte ich gleich, denn die Ursachen für diese Verschiebung konnte ich mir sehr gut erklären, denn gerade in den Ausbildungen zu den Gesundheitsfachberufen (seit 2004 Gesundheits- und Krankenpflege, Kinderkrankenpflege und Altenpflege) hatte es in den vergangenen Jahren sehr deutliche Erhöhungen der Ausbildungsvergütungen gegeben. Und neu ist seit 2020 die "zusammengeführte" Ausbildung zum Pflegefachmann/ zur Pflegefachfrau, deshalb hier kurz die statistische Auflösung (vom Tagesschau-FB-Verantwortlichen gab es erst kurz vor 21 Uhr eine nähere Erläuterung zu den Unterschieden in den Ausbildungsgehältern: Und ja, es hing mit den Gesundheitsberufen zusammen). Durchschnittliche monatliche Bruttovergütung (öffentlicher Dienst, TVöD Pflege): 2007 Altenpfleger/in ca. 700–800 € Gesundheits- & Krankenpfleger/in ca. 750–850 € Kinderkrankenpfleger/in ca. 750–850 € 2010 AP: ca. 850–950 € GuK: ca. 900–1.000 € GuKK: ca. 900–1.000 € 2015 AP: ca. 950–1.050 € GuK: ca. 1.000–1.100 € GuKK: ca. 1.000–1.100 € 2019 AP: ca. 1.000–1.200 € GuK: ca. 1.100–1.250 € GuKK: ca. 1.100–1.250 € Die Vergütung stieg meist mit jedem Ausbildungsjahr um etwa 50–100 €. Nicht zu vergessen: Hier handelt es sich um TVÖD-Tabellen, aber es gibt natürlich sehr viele Einrichtungen der Caritas und der Diakonie, die eigene Verträge aushandeln (nach AVR, den Arbeitsvertragsrichtlinien als kirchlichen Regelwerken der Einrichtungen. Der Pflegesektor gilt als einer der am frühsten vermarktlichten Segmente der sozialen Wohlfahrtsproduktion in Deutschland (Oschmiansky: 2013); es gibt sehr viele private Einrichtungen und Krankenhäuser, die eigene Interessenvertreter haben (wie den Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste (bpa) in der ambulanten und stationären Langzeitpflege und den Bundesverband Deutscher Privatkliniken (BDPK) für Kliniken und Reha-Einrichtungen). 2020 gab es dann die Umstellung auf die generalisierte Ausbildung aller drei Gesundheitsberufe zur Pflegefachfrau/ zum Pflegefachmann und nun sieht die Ausbildungsvergütung folgendermaßen aus: 1. Jahr ca. 1.341 € 2. Jahr ca. 1.402 € 3. Jahr ca. 1.503 € Schaut man sich die Zusammensetzung der Auszubildenden in den Gesundheitsberufen an, so sind weiterhin Frauen in der Mehrheit. Der Frauenanteil liegt konstant bei 80 bis 85 Prozent, Männeranteil bei 15–20 Prozent. Davon haben rund 25 bis 30 Prozent einen Migrationshintergrund. Sieht man sich die herrschenden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen an, so ist natürlich augenfällig, dass im späteren Berufsleben Frauen in Teilzeitarbeit gehen, oder beispielsweise in Springerpools arbeiten, die Kliniken einrichten, um Eltern flexiblere Zeiten für die Familiensorgearbeit (Kita, Kinderbetreuung, Pflege) zu gewährleisten oder dann irgendwann aus dem Beruf ausscheiden - auch hierfür gibt es ja Statistiken, wie lang Pflegefachkräfte im Beruf bleiben.

Der Athener Verlag wirft Eva Illouz eine "Dehistorisierung des Kolonialismus" vor und solidarisierte sich explizit "mit dem palästinensischen Volk". Mit der Kündigung des Vertrags ist die Freigabe der Rechte für "Gefühle in Zeiten des Kapitalismus" verbunden. Oposito ist ein Verlag für feministische, queere und psychoanalytische Literatur. Anlass war ein Beitrag von Eva Illouz im britischen Onlinemagazin Fathom "Time to Unmask the Imposture of Anti-Zionism" (Zeit, den Antizionismus als Täuschung zu entlarven), in welchem sie die fehlende Empathie in Teilen der 'globalen Linken' für Israel nach dem 07. Oktober 2023 ansprach. In diesem Essay liefert Eva Illouz eine tiefgehende und provokante Analyse der Beziehung zwischen Anti-Zionismus und Antisemitismus. Zentrale Thesen von Eva Illouz im Essay Anti-Zionismus als neue Form des Antisemitismus: Illouz argumentiert, dass Anti-Zionismus oft nicht nur eine politische Kritik ist, sondern eine Reinkarnation antisemitischer Denkweisen. Sie sieht darin eine Fortsetzung historischer rassistischer Hierarchien, die sich in neuen ideologischen Gewändern zeigen. Linke Doppelmoral: Sie kritisiert, dass die politische Linke zwar Minderheiten das Recht zugesteht, selbst zu definieren, was Diskriminierung ist – etwa bei Sexismus oder Rassismus –, aber Juden dieses Recht beim Thema Antisemitismus verweigert. Kulturelles Unbewusstes: Illouz betont, dass rassistische und antisemitische Stereotype tief in der Kultur verankert sind und auch von Mitgliedern diskriminierter Gruppen selbst übernommen werden können. Sie lehnt daher das Argument ab, dass jemand aufgrund seiner Identität automatisch von solchen Vorurteilen frei sei. Zionismus als säkulare Befreiungsbewegung: Sie erinnert daran, dass der Zionismus ursprünglich eine säkulare Bewegung war, die darauf abzielte, Würde und Unabhängigkeit für Juden zu schaffen. Die Dämonisierung dieser Bewegung hält sie für ideologisch verzerrt. Der Essay erschien im Kontext der weltweiten Debatten über Antisemitismus nach dem 7. Oktober 2024. Illouz reagiert auf die zunehmende Polarisierung und fordert eine intellektuelle Ehrlichkeit im Umgang mit dem Begriff Anti-Zionismus. Hierbei muss man natürlich Eva Illouz' wissenschaftliche Perspektiven kennen. Schlüsselkonzepte Kulturelles Unbewusstes: Illouz greift auf ein Konzept zurück, das an Freud und Adorno erinnert: Gesellschaften tragen unbewusste kulturelle Muster, die sich in scheinbar rationalen Diskursen manifestieren. Anti-Zionismus sei oft ein solcher Diskurs, der unbewusst antisemitische Stereotype reproduziere. Moralische Ökonomie der Linken: Sie kritisiert die selektive Empathie der politischen Linken, die jüdische Selbstdefinitionen von Diskriminierung nicht ernst nimmt. Während andere Gruppen ihre Diskriminierung selbst benennen dürfen, werde Juden diese Autorität abgesprochen. Dekoloniale Rhetorik als Tarnung: Illouz analysiert, wie anti-zionistische Positionen sich oft der Sprache der Dekolonialisierung bedienen, dabei aber historische und kulturelle Komplexität des jüdischen Volkes ignorieren. Sie sieht darin eine ideologische Vereinfachung, die zur Dämonisierung Israels führt. Politischer Impetus von Eva Illouz Zionismus als Befreiungsbewegung: Illouz stellt klar, dass Zionismus historisch eine Antwort auf Verfolgung und Entrechtung war – nicht nur religiös, sondern auch säkular und sozialistisch geprägt. Die heutige Gleichsetzung von Zionismus mit Kolonialismus hält sie für historisch falsch und moralisch problematisch. Antisemitismus in progressiven Milieus: Sie warnt davor, dass Antisemitismus heute nicht nur von der extremen Rechten kommt, sondern auch in linken, akademischen und aktivistischen Kreisen Fuß gefasst hat – oft unter dem Deckmantel von Anti-Zionismus. Appell an intellektuelle Redlichkeit: Illouz ruft dazu auf, die Komplexität jüdischer Geschichte und Identität anzuerkennen und sich gegen ideologische Verkürzungen zu wehren. Sie fordert eine neue Ethik der Kritik, die nicht auf Dämonisierung basiert. Das alles adressiert Eva Illouz nicht anonym, sondern sie kritisiert dabei explizit beispielsweise Judith Butler, den Schriftsteller Pankaj Mishra und Autorin Masha Gessen, die sich vehement für die Emanzipation von Minderheitsrechten stark machten, aber seit dem 7. Oktober 2023 im Bezug auf die israelischen Opfer des Massakers sehr, sehr still waren. "In einer Welt, die vor Verfolgungen, Kriegen, Völkermorden, Massakern, Bürgerkriegen wimmelt, kann die Obsession, mit der ausgerechnet Israels Verbrechen an den Pranger gestellt werden, kaum anders, als den Verdacht zu wecken, dass hier mehr zur Disposition steht als nur Israels eigene Sünden." (Aus: zeit-online.de, Peter Neumann: "Mehr als eine griechische Tragödie" https://www.zeit.de/kultur/2025-08/eva-illouz-israel-verlag-athen-publizierung, letzter Zugriff 11.08.2025 14 Uhr) Zwischen den Stühlen Noch im Frühjahr 2025 wurde die für den wichtigsten Kulturpreis Israels nominierte renommierte und weltbekannte Soziologin vom israelischen Bildungsminister Yoav Kisch wegen ihrer angeblichen "Israel-Feindlichkeit" gecancelt, weil sie 2021 an einer Petition an den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag beteiligt war. Darin wurde eine Untersuchung darüber gefordert, ob Israel im Gazastreifen, in der Westbank und Ostjerusalem Kriegsverbrechen begangen hatte. Über 180 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Israel, darunter zehn Preisträgerinnen und Preisträger, hatten diese Petition initiiert. Mittlerweile hat sich mit Topovoros Books ein weiterer griechischer Verlag gefunden, der zwar gegenwärtig keine freien Kapazitäten hat, sich aber mit Eva Illouz solidarisierte und die "Gefühle in Zeiten des Kapitalismus" verlegen will. Fazit Seit vielen Jahren lese ich die Werke von Eva Illouz und deshalb bin ich sehr erstaunt über die Schärfe, die ihr mittlerweile auch aus europäischen Verlagskreisen, wie diesem Oposito-Verlag entgegen schlägt. Auffallend war für mich in ihrer Essay-Sammlung "Israel", ich sah sie ja exklusiv bei einer tazlab-Veranstaltung zum neu erschienenen Buch in Berlin, dass sie zwei Ebenen zusammenbringen möchte. In dieser Sammlung spricht sie sich explizit nicht gegen einen jüdischen Staat Israel aus und damit auch nicht gegen Zionismus. Allerdings nicht - und das ist der wichtige Unterschied - als ethnisch-exklusive, religiös begründete oder nationalistische Lesart, sondern als linke und liberale Vision mit den universellen Werten, der Gleichheit und der Menschenrechte. Und Eva Illouz hat eine kosmopolitische Perspektive und knüpft stark an das Konzept der Aufklärung des Citoyen an: Bürgerrechte, Gleichheit vor dem Gesetz in säkularer Rahmenordnung. Aufklärerischer Liberalismus Der Mensch als Gleicher unter Gleichen zuerst als Bürger, nicht primär als Angehöriger einer Ethnie oder Religion. Darin liegt das weltbürgerliche Moment: Israel soll sich nicht über Abgrenzung, sondern über universelle Werte legitimieren. Spricht sie in Interviews, so bezeichnet sie sich selbst als linke Zionistin (durchaus als politische Selbstbeschreibung). Die Essaysammlung bietet so den Eindruck, dass Eva Illouz auf eine kosmopolitische Bürgergemeinschaft zielt. Sie steht innerhalb des Zionismus, möchte diesen neu deuten - nicht im Sinne der rechtsradikalen aggressiven Siedler-Politik (aktuell mit N. an der Spitze) und dem ethnisch-religiösen Nationalismus, sondern hin zu einem säkularen, liberalen und weltbürgerlichen Projekt mit gleichberechtigten Bürgerinnen und Bürgern in Israel, denen gleiche Rechte und Pflichten garantiert werden.

Yascha Mounk wurde 1982 in München geboren und ist der Sohn einer polnischen Jüdin, die im Jahr 1969 aufgrund einer Säuberungswelle in der Kommunistischen Partei Polens mit ihren Eltern Polen verlassen musste. Mounk hat sich aus eigenen Erfahrungen mit Migration schon sehr früh mit dem Liberalismus und dem Ideal einer multiethnischen Gesellschaft befasst sowie deren Herausforderungen und Gefährdungen. Mounk studierte seit dem Jahr 2005 in den USA Regierungswissenschaft und erwarb den Ph.D.-Titel an der Harvard-Universität. Er lebt in New York und nahm im Jahr 2017 die amerikanische Staatsbürgerschaft an, um der Präsidentschaft von Donald Trump so besser entgegen treten zu können. Unabhängigkeit der Justiz Bereits vor fünf Jahren analysierte Mounk die Bedrohungen für liberale Demokratien durch Populismus, den Verlust des Vertrauens in Institutionen und die wachsende Polarisierung der Gesellschaft durch extreme Parteien. Mounk plädiert für die Unabhängigkeit der Justiz, so zum Beispiel unabhängige Ernennungsverfahren, bei denen die Auswahl und Ernennung von Richtern transparent und ohne direkten Einfluss der Exekutive oder Legislative erfolgen soll, z. B. durch unabhängige Kommissionen. Wichtig ist die finanzielle Autonomie der Justiz. Die Justiz sollte ein unabhängiges Budget haben, um ihre Funktionsfähigkeit zu garantieren und politischen Druck zu vermeiden. Karriereschutz für Richterinnen und Richter: Mechanismen zur Sicherstellung, dass Richter nicht durch politische Entscheidungen in ihrer Karriere behindert oder benachteiligt werden. Die Freiheit der Presse Yascha Mounk setzte sich mit dem Schutz und der Freiheit einer unabhängigen Presse auseinander. Gesetzlicher Schutz der Pressefreiheit: Gesetze sollten die freie Berichterstattung garantieren und den Einfluss staatlicher oder wirtschaftlicher Akteure begrenzen. Eine transparente Medienfinanzierung: Die Unabhängigkeit kann durch Förderprogramme unterstützt werden, die staatliche Gelder bereitstellen, aber klare Schutzmechanismen gegen politische Einflussnahme enthalten. Quellenschutz für Journalistinnen und Journalisten: Der rechtliche Schutz von Informanten ist essenziell, um investigativen Journalismus zu ermöglichen. Und schließlich ist die Förderung von Medienvielfalt wichtig: Die Unterstützung unabhängiger und lokaler Medien sowie der Abbau von Monopolen stärken den pluralistischen Informationsfluss. Auch mittlerweile sechs Jahre später hat Mounks Buch nichts von seiner Aktualität eingebüßt, nicht zuletzt wegen der gewonnenen zweiten Präsidentenwahl durch Donald Trump im Herbst 2024. Angesichts dessen fast täglich herausgegebenen Dekreten und dem gefährlichen Rückbau des Rechtsstaats durch Elon Musks DOGE (deutsch: Abteilung für Regierungseffizienz, offiziell U.S. DOGE Service Temporary Organization), welche die "Regierungseffizienz und -produktivität erhöhen soll" und staatliche IT-Systeme modernisieren soll. Yascha Mounks Empfehlungen zur Stärkung der Gewaltenteilung zeigen, dass diese wirksame Mittel des Rechtsstaates gegen autokratisches Macht-Gebaren wie von Trump praktiziert, beinhalten: Die Legislative und die Judikative müssen ihre Kontrollfunktion gegenüber der Exekutive konsequent wahrnehmen. Gerichte können beispielsweise Dekrete blockieren, die gegen die Verfassung verstoßen, wie es bereits in einigen Fällen geschehen ist. Unabhängige Medien und Zivilgesellschaft: Eine freie Presse und aktive Bürgerbewegungen spielen eine Schlüsselrolle, um Missstände aufzudecken und öffentlichen Druck aufzubauen. Sie können dazu beitragen, Transparenz und Rechenschaftspflicht zu fördern. Rechtsstaatliche Checks and Balances: Institutionen wie der Kongress und unabhängige Behörden müssen ihre Befugnisse nutzen, um exekutive Übergriffe zu verhindern. Dies könnte durch verstärkte Aufsicht und Untersuchungsausschüsse geschehen. Demokratische Prozesse wie Wahlen und Proteste sind essenziell, um autokratische Tendenzen zu bekämpfen. Eine informierte und engagierte Wählerschaft kann Veränderungen herbeiführen. Bildung und Aufklärung, letztlich eine informierte Bevölkerung ist weniger anfällig für Propaganda. Bildungsprogramme und unabhängige Medien können helfen, kritisches Denken zu fördern.Der Druck durch internationale Aufmerksamkeit kann dazu beitragen, dass demokratische Standards eingehalten werden. Die Identitätsfalle Im Jahr 2024 erschien Yascha Mounks Buch "Im Zeitalter der Identität: Der Aufstieg einer gefährlichen Idee", mit welchem der Politologe sich keineswegs zum Trumpianer entwickelt hat, sondern seine grundlegende Frage formuliert, warum die Linke ihren Universalismus aufgegeben habe? Denn mit der Betonung von Gruppen-Identitäten, so argumentiert Mounk, wird nicht nur vormals marginalisierten Gruppen gesellschaftliches Gehör verschafft, sondern identitäres Denken verführe dazu, Spaltungen in der Gesellschaft zu vertiefen. Die Gefahr des Gruppendenkens, eine übermäßige Fixierung auf Gruppenidentität könne zu einer Art „wir gegen die anderen“-Mentalität führen, die die Einheit und Zusammenarbeit innerhalb der Gesellschaft gefährdet. Yascha Mounk plädiert hingegen für eine Rückkehr zu universellen Werten wie Gleichheit und Menschlichkeit, die alle Menschen miteinander verbinden, unabhängig von ethnischer, kultureller oder sozialer Herkunft. Kritik übt Yascha Mounk an Extrem-Positionen, konservativen und progressiven Polen, die sich seiner Meinung nach oft zu stark auf Identitätsmerkmale fixieren und dadurch den gesellschaftlichen Diskurs verengen. Er schlägt Ansätze vor, wie Gesellschaften eine Balance zwischen individueller Identität und gemeinsamen Werten finden können, ohne die Vorteile der Vielfalt zu verlieren. Mounk macht das an einer Vielzahl von Episoden und Beispielen aus sozialen Medien plastisch. Beispielsweise mit der Rassentrennung unter einem neuen Deckmantel: Er verweist auf Universitäten in den USA, die sogenannte „Safe Spaces“ schaffen, die nach ethnischen oder kulturellen Kriterien getrennt sind. Obwohl dies gut gemeint sein mag, sieht Mounk darin eine problematische Wiederbelebung der Trennung von Gruppen. Oder auch progressive versus konservative Ansätze. Mounk illustriert, wie sowohl progressive als auch konservative Lager gelegentlich extremistische Positionen einnehmen. Ein Beispiel ist die Verhärtung in Debatten über kulturelle Aneignung oder die Ablehnung von Diversitätsinitiativen. Beide Seiten könnten, so Mounk, von einem Dialog profitieren, der auf universellen Werten basiert. Stärkung demokratischer Werte Yascha Mounk zeigt positive Beispiele von Politikern und Bewegungen, die versuchen, über Gruppengrenzen hinweg universelle Werte wie Gleichheit und Würde zu fördern, etwa Kampagnen für Bürgerrechte oder interkulturelle Dialoginitiativen. Yascha Mounk schlägt vor, den Nationalismus durch einen inklusiven Patriotismus zu zähmen. Er argumentiert, dass es wichtig ist, eine gemeinsame Identität zu fördern, die alle Bürger unabhängig von ihrer ethnischen Herkunft einschließt. Durch die Förderung von kritischem Denken kann Bildung Menschen dazu befähigen, nationalistische Ideologien kritisch zu hinterfragen und sich gegen Propaganda oder extremistische Ansichten zu wehren. Historische Aufklärung kann helfen, die Geschichte des Nationalismus und seine Auswirkungen – sowohl positive als auch negative – zu verstehen. Dies kann dazu beitragen, aus der Vergangenheit zu lernen und extreme Formen des Nationalismus zu vermeiden. Durch die Einbindung von Themen wie kulturelle Vielfalt, Geschichte und globale Perspektiven können Bildungssysteme ein Bewusstsein für die Bedeutung von Inklusion und gegenseitigem Respekt schaffen. Und schließlich kann eine gemeinsame Identität gefördert werden: Bildung kann dazu beitragen, eine inklusive nationale Identität zu schaffen, die auf gemeinsamen Werten und Zielen basiert, anstatt auf ethnischen oder kulturellen Unterschieden. Indem Bildung demokratische Prinzipien wie Gleichheit, Freiheit und Gerechtigkeit betont, kann sie dazu beitragen, Nationalismus in eine konstruktive Richtung zu lenken. Macht und Diskurs nach Michel Foucault Doch zurück zur Identitätssynthese und deren Geschichte. Yascha Mounk diskutiert Michel Foucaults Einfluss auf die moderne Identitätspolitik und betont dessen zentrale Ideen über Macht und Diskurs. Foucaults Konzept, dass Macht nicht nur repressiv, sondern auch produktiv ist, hat die Art und Weise geprägt, wie soziale Strukturen und Identitäten heute verstanden werden. Mounk hebt hervor, dass Foucaults Skepsis gegenüber universellen Wahrheiten und großen Narrativen eine Grundlage für viele der heutigen Debatten über Identität und Macht bietet. Foucault kritisierte die Idee stabiler und essenzieller Identitäten, da er Identität als ein Produkt von Macht- und Diskursstrukturen betrachtete. Für ihn war Identität nicht etwas Festes, sondern etwas, das durch gesellschaftliche Praktiken und Diskurse ständig neu geformt wird. Er argumentierte, dass der Fokus auf Identität oft dazu führen kann, dass Machtverhältnisse und die Mechanismen, die Identitäten formen, übersehen werden. Stattdessen plädierte er für eine kritische Reflexion, die die Prozesse der Subjektivierung und die Rolle von Macht in der Konstruktion von Identitäten hinterfragt. Ausführlich diskutiert Yascha Mounk Widersprüche innerhalb der Ansätze der Identitätssynthese, wie beispielsweise des strukturellen Rassismus, der dauerhaft und unüberwindbar sei und die Standpunkttheorie, die vorgibt, Mitglieder einer Identitätsgruppe könnten die Mitglieder einer anderen Gruppe nicht verstehen oder auch die Intersektionalität, 1989 durch Kimberlé Crenshaw als Ansatz entwickelt, die mehrere überschneidende Kategorien postulierte, aber schließlich doch in der verstärkenden Bedeutung der Opferrolle verharrte. Crenshaw argumentierte, dass diese Diskriminierungen nicht isoliert betrachtet werden können, sondern sich gegenseitig verstärken und komplexe Ungleichheiten schaffen. Karl Marx und die Differenz (zur Identitätssynthese) Yascha Mounk hebt hervor, dass Marxismus und die heutige Identitätspolitik unterschiedliche Ansätze verfolgen. Während Marx sich auf universelle Prinzipien und die Überwindung von Klassenunterschieden konzentrierte, betont die Identitätspolitik oft spezifische Gruppenidentitäten und deren Rechte. Mounk argumentiert, dass diese Fokussierung auf Identitäten manchmal die universellen Werte von Gleichheit und Freiheit untergräbt. Die Identitätssynthese unterscheidet sich grundlegend vom Marxismus, da sie sich auf Gruppenidentitäten wie Geschlecht, Ethnie oder sexuelle Orientierung konzentriert, während der Marxismus den zentralen Konflikt zwischen den Klassen – Arbeiterklasse und Kapitalbesitzer – in den Vordergrund stellt. Die Marxistische Theorie sieht die ökonomischen Verhältnisse als Hauptursache für soziale Ungleichheit und Unterdrückung, während die Identitätssynthese oft kulturelle und soziale Faktoren betont. Ein weiterer Unterschied liegt in der Herangehensweise: Der Marxismus strebt eine universelle Lösung für die Befreiung aller unterdrückten Klassen an, während die Identitätssynthese spezifische Anliegen hervorhebt. Diese unterschiedlichen Perspektiven führen zu einer Trennung zwischen den beiden Ansätzen. Marxistische Kritiker der Identitätssynthese argumentieren oft, dass der Fokus auf Gruppenidentitäten wie Ethnie, Geschlecht oder sexuelle Orientierung von den zentralen ökonomischen Konflikten und Klassenkämpfen ablenkt, die im Marxismus im Vordergrund stehen. Sie sehen die Identitätssynthese als eine Form von kulturellem oder ideologischem Kampf, der die Aufmerksamkeit von der materiellen Basis der Gesellschaft und den Produktionsverhältnissen weglenkt. Zu nennen sind beispielsweise Slavoj Žižek und Vivek Chibber. Žižek kritisiert, dass Identitätspolitik oft zu einer Fragmentierung der Arbeiterklasse führt, während Chibber in seinem Buch "Postcolonial Theory and the Specter of Capital" argumentiert, dass postkoloniale und identitätspolitische Ansätze die universellen Prinzipien des Marxismus untergraben. Zum Schluss: Mounks Definition des Liberalismus Liberalismus beruht auf der Ablehnung einer natürlichen Hierarchie. Liberale glauben nicht, dass Menschen Dank ihrer vornehmen Geburt oder ihrer angeblichen spirituellen Erleuchtung das Recht haben, über andere zu herrschen, sondern sind der Überzeugung, dass wir alle gleich geboren sind. Deshalb bestehen wir auf Institutionen, die es uns erlauben, die Regeln, denen wir gehorchen müssen, selbst zu bestimmen. Diese Regeln müssen jedem von uns die Freiheit zugestehen, nach eigenen Überzeugungen zu leben und Mitgliedern aller Identitätsgruppen versichern, dass die Behandlung, die sie vom Staat erfahren nicht von ihrer Geschlechtsidentität, ihrer sexuellen Orientierung oder ihrer Hautfarbe abhängig ist. Yascha Mounk Mounk, Yascha. Der Zerfall der Demokratie: Wie der Populismus den Rechtsstaat bedroht. Droemer eBook. Kindle-Version. April 2019 Mounk, Yascha: Im Zeitalter der Identität: Der Aufstieg einer gefährlichen Idee. © 2024 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Ausgezeichnet mit dem Preis der Leipziger Buchmesse 2023 "Mose ließ die Israeliten vom Schilfmeer aufbrechen. Sie zogen hinaus in die Wüste Schur. Schon drei Tage waren sie in der Wüste unterwegs und fanden kein Wasser. Dann kamen sie nach Mara, wo es Wasser gab. Doch sie konnten es nicht trinken, weil es bitter war. Deshalb nannte man den Ort Mara, das heißt: Bitterbrunnen. Das Volk rebellierte gegen Mose und sagte: "Was sollen wir jetzt trinken?" Da schrie Mose zum Herrn, und der Herr zeigte ihm ein Stück Holz. Mose warf es ins Wasser, und dann konnten die Israeliten es trinken." Aus dem biblischen Buch Exodus stammt diese Geschichte. Darin irrt das Volk Israels verdurstend durch die Wüste und findet schließlich einen Brunnen, dessen Wasser jedoch bitter ist. Nur durch verdorrtes Holz von Wüstenbäumen kann es wieder genießbar gemacht werden. So versucht auch die jüdische Revolutionärin Hertha Gordon-Walcher ihr Leben lang, trotz bitterer Lebensumstände und Enttäuschungen für eine bessere Zukunft zu kämpfen. Bittere Brunnen. Hertha Gordon-Walcher und der Traum von der Revolution von Regina Scheer erzählt die bewegende Lebensgeschichte einer Frau, die ihr ganzes Dasein der Idee einer besseren, gerechteren Welt verschrieben hatte – und dabei immer wieder von den politischen Umbrüchen des 20. Jahrhunderts herausgefordert wurde. Hertha Gordon-Walcher war eine überzeugte Kommunistin, die sich früh für soziale Gerechtigkeit engagierte. Sie kämpfte für die Arbeiterbewegung, erlebte Verfolgung im Nationalsozialismus und setzte sich später in der DDR für ihre Ideale ein. Doch die Realität in der DDR stellte ihre Überzeugungen auf eine harte Probe. Trotz aller Enttäuschungen blieb sie eine leidenschaftliche Kämpferin, die nie aufhörte, nach Wegen zu suchen, um ihre Ideale mit der Realität in Einklang zu bringen. Regina Scheer zeichnet das Porträt einer Frau, die voller Hoffnung und Tatkraft war, aber auch die Schattenseiten einer Revolution erlebte. Sie erzählt von persönlichen Verlusten, politischen Konflikten und der unermüdlichen Suche nach Gerechtigkeit. Bittere Brunnen ist ein tief berührendes Buch über einen lebenslangen Traum – und die oft schmerzhafte Konfrontation mit der Wirklichkeit. Frühe Jahre und Engagement in der KPD Hertha Gordon-Walcher trat bereits 1915 dem Spartakusbund bei. Nach ihrer Tätigkeit als Sekretärin von Clara Zetkin und ihrer Arbeit im Kreml kurz nach der Russischen Revolution kehrte sie nach Deutschland zurück und engagierte sich aktiv in der KPD. In dieser Zeit lernte sie auch ihren späteren Ehemann, Jacob Walcher, kennen, der als KPD-Sekretär in Stuttgart tätig war. Gemeinsam setzten sie sich für die sozialistische Bewegung ein und teilten den Traum von einer gerechten Gesellschaft. Kluge Mitstreiterin von Clara Zetkin Hertha Gordon war 1921 nach Moskau gereist, um am III. Weltkongress der Kommunistischen Internationale teilzunehmen. Dort arbeitete sie als Sekretärin für Clara Zetkin und war in die organisatorischen Abläufe der Kommunistischen Internationale eingebunden. Scheer beschreibt, wie Hertha von der revolutionären Atmosphäre in Moskau inspiriert wurde und diese Erfahrungen ihr politisches Engagement nachhaltig prägten. Hertha Gordon und Clara Zetkin verband eine enge berufliche und persönliche Beziehung, die sich insbesondere während des Ersten Weltkriegs entwickelte. Hertha Gordon unterstützte Clara Zetkin in ihrer politischen Arbeit. In dieser Zeit lernte sie auch Jacob Walcher kennen, der später ihr Ehemann wurde. Aufgrund ihrer gemeinsamen politischen Überzeugungen und Aktivitäten entstand zwischen Hertha Gordon und Clara Zetkin eine tiefe Verbundenheit. Ihre Zusammenarbeit war geprägt von einem intensiven Austausch und gegenseitiger Unterstützung in ihrem Engagement für die sozialistische Bewegung. Die Beziehung zwischen Clara Zetkin und Hertha Gordon basierte auf einer gemeinsamen politischen Vision und war durch enge Zusammenarbeit sowie persönliche Verbundenheit geprägt. Die KPD in den 1920ern - Interne Konflikte und Abspaltung Die KPD war in den 1920er Jahren von internen Spannungen geprägt, insbesondere hinsichtlich der Ausrichtung und Führung der Partei. 1928 übernahm Ernst Thälmann die Führung der KPD, was zu einer stärkeren Unterordnung unter die Direktiven Stalins führte. Diese Entwicklung stieß bei vielen Mitgliedern, darunter Hertha und Jacob Walcher, auf Kritik. Sie lehnten die stalinistische Ausrichtung ab und wurden aus der KPD ausgeschlossen. Gemeinsam mit anderen Gleichgesinnten gründeten sie die Kommunistische Partei-Opposition (KPO), eine linke Abspaltung, die sich gegen die stalinistische Linie stellte. Hertha Gordon-Walcher und ihr Ehemann Jacob Walcher zählten zu den Gründungsmitgliedern der Kommunistischen Partei-Opposition (KPO) und Jacob Walcher wurde Mitherausgeber der KPO-Zeitschrift "Gegen den Strom". "Für Clara wie auch für Hertha war die Partei ein Brunnen, ein nun vergifteter, bitterer Brunnen, an dem sie fast verdursteten. Aber irgendwo musste doch das heilende Gegenmittel sein, vielleicht nur in ihnen selbst. Am 16. Dezember 1928 schrieb Jacob an Hertha, er sei völlig aus dem Gleichgewicht. »Das äußert sich in nervöser Unruhe, in der Unlust, allein zu Hause zu sein, und auf andere Weise.« Am 21. Dezember 1928 wurde er aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen, am selben Tag wie Paul Böttcher, Hans Tittel, Albert Schreiner. Fast alle seiner engen Freunde wurden rausgeschmissen oder gingen von selbst aus der Partei. Minna Flake, Paul Frölich, Rosi Wolfstein, Robert Siewert, August Enderle … Andere, wie Wilhelm Pieck, blieben, duckten sich aus der Schusslinie und gaben Jacob zu verstehen, dass sie ihm persönlich verbunden blieben." Scheer, Regina. Bittere Brunnen: Hertha Gordon-Walcher und der Traum von der Revolution - Ausgezeichnet mit dem Preis der Leipziger Buchmesse 2023 (S.251-252). Penguin Verlag. Kindle-Version. Willy Brandt und die Walchers Im Buch wird die enge Beziehung zwischen Willy Brandt und dem Ehepaar Jacob und Hertha Gordon-Walcher detailliert beschrieben. Jacob Walcher, prominenter Kommunist und Mitbegründer der KPD, war in den 1930er Jahren ein politischer Mentor für den jungen Willy Brandt. Walcher, der seit 1932 im Vorstand der SAPD tätig war, entsandte Brandt nach Oslo, um dort einen Auslandsstützpunkt für die Partei aufzubauen. Hertha Walcher leitete das Auslandsbüro der SAPD und war somit direkt in die politischen Aktivitäten involviert, die Brandts Exil ermöglichten. Nach mehreren Internierungen in Frankreich gelang Hertha und Jacob schließlich die Flucht in die USA. Dort heirateten Hertha und Jacob am 13. Mai 1941 in New York. Jacob arbeitete wieder als Dreher, während Hertha weiterhin politisch aktiv blieb. In den USA pflegten sie Kontakte zu anderen emigrierten Mitgliedern der SAPD und der Kommunistischen Partei-Opposition (KPO). Eine besondere Freundschaft verband sie mit Bertolt Brecht, der sich für ihre politischen Erfahrungen interessierte. Brecht unterstützte das Ehepaar finanziell, was ihnen letztlich die Rückkehr nach Deutschland ermöglichte. Während ihres Exils in den USA hielten Hertha und Jacob Walcher an ihren sozialistischen Überzeugungen fest und setzten sich weiterhin für ihre politischen Ideale ein. Ihre Zeit in den Vereinigten Staaten war geprägt von der Fortführung ihres Engagements im Exil und der Pflege von Netzwerken mit Gleichgesinnten. Die Beziehung zwischen Brandt und den Walchers entwickelte sich von einer engen Zusammenarbeit zu einer allmählichen Entfremdung. Während Brandt sich Mitte der 1930er Jahre vom Stalinismus distanzierte und einen demokratisch-sozialistischen Weg einschlug, blieben die Walchers der sowjetischen Linie treu. Nach dem Zweiten Weltkrieg kehrten beide Parteien nach Deutschland zurück: Brandt in den Westen, die Walchers in die sowjetische Besatzungszone, wo sie am Aufbau der DDR mitwirkten. Diese unterschiedlichen politischen Entscheidungen führten letztlich zum Bruch zwischen Brandt und dem Ehepaar Walcher. Trotz der politischen Differenzen blieb eine persönliche Verbundenheit bestehen. Als die Walchers in der frühen DDR Gefahr liefen, verhaftet zu werden, bot Brandt ihnen einen sicheren Transfer nach West-Berlin an. Dieses Angebot unterstreicht die tiefe persönliche Beziehung, die trotz ideologischer Unterschiede fortbestand. Insgesamt zeichnet „Bittere Brunnen“ ein umfassendes Bild der komplexen und wechselvollen Beziehung zwischen Willy Brandt und dem Ehepaar Walcher, geprägt von gemeinsamen politischen Idealen, persönlichen Bindungen und letztlich divergierenden Wegen in der Nachkriegszeit. Exil und Rückkehr Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs kehrten sie nach Deutschland zurück und traten 1947 der SED bei, um am Aufbau des Sozialismus in der DDR mitzuwirken. Ihre Rückkehr wurde jedoch nicht von allen Parteimitgliedern begrüßt, und sie sahen sich mit Misstrauen und Ablehnung konfrontiert. Walter Ulbricht wird als einflussreicher Politiker der DDR dargestellt, der in den 1950er Jahren maßgeblich die Umgestaltung der SED zu einem straff geführten Instrument seiner Politik vorantrieb. In diesem Kontext wurde Jacob Walcher, der Ehemann von Hertha Gordon-Walcher, 1951 aus der SED ausgeschlossen und als „schlimmster Feind der Arbeiterklasse“ bezeichnet. Diese Ereignisse verdeutlichen die Spannungen zwischen den Walchers und der Parteiführung unter Ulbricht. Kritische Reflexion und Vermächtnis Regina Scheer beleuchtet in ihrem Buch die komplexe Beziehung der Walchers zur KPD und später zur SED. Trotz ihrer unerschütterlichen Hingabe zur „guten Sache“ waren sie oft mit den Entscheidungen und dem Führungsstil der Parteispitze unzufrieden. Ihre Erfahrungen spiegeln die Herausforderungen und Widersprüche wider, denen viele Kommunisten in dieser Zeit gegenüberstanden. Scheers Werk trägt dazu bei, diese ambivalente Geschichte der KPD und ihrer Mitglieder aus einer persönlichen Perspektive zu verstehen und erinnert an die oft übersehenen Beiträge von Frauen wie Hertha Gordon-Walcher in der deutschen Arbeiterbewegung. "Ihr war es so selbstverständlich, Jüdin zu sein, wie ihre Identität als Frau ihr selbstverständlich war. Sie hatte es sich nicht ausgesucht, aber sie war es, und es bestimmte ihre Persönlichkeit. Natürlich glaubte sie, die Religion hinter sich gelassen zu haben, aber Jüdischsein ist mehr als ein religiöses Bekenntnis. Hertha blieb auch als Kommunistin die Tochter von Isaak und Chienka Gordon; wie so viele ihrer Freunde war sie aufgewachsen mit dem Gesetz der Zedakah, der Gerechtigkeit, die ein Tun erfordert. In ihren Kreisen spielte die Herkunft keine Rolle, aber jetzt spürte sie manchmal auch eine ganz persönliche Gefährdung, dachte an die Geschichten des Rabbiners Vogelstein. Die Flut um den Ölzweig stieg." Scheer, Regina. Bittere Brunnen: Hertha Gordon-Walcher und der Traum von der Revolution - Ausgezeichnet mit dem Preis der Leipziger Buchmesse 2023 (S.277). Penguin Verlag. Kindle-Version.

Stuart Halls "Vertrauter Fremder: Ein Leben zwischen zwei Welten" ist ein Mix aus persönlicher Lebensgeschichte und theoretischen Reflexionen seiner Kulturtheorie. Stuart Hall schildert seinen Lebensweg als schwarzer Intellektueller, der zwischen den kulturellen Welten Jamaikas und Großbritanniens navigiert - gespickt mit seinen Einsichten in die Entwicklung der Kulturtheorie und seiner kritischen Sozialwissenschaft. Hall wurde 1932 in Kingston, Jamaika, in eine Familie der unteren Mittelklasse geboren, die von kolonialen Werten und britischer Kultur geprägt war. Seine Vorfahren waren Portugiesen, Inder, Afrikaner und Juden. Die Familie war “farbig”, aber sie versuchten, sich an britische Normen anzupassen, um sich von der schwarzen, ärmeren Bevölkerung abzugrenzen. Dieses Spannungsverhältnis zwischen Rasse, Klasse und Kolonialismus prägte ihn tief. Hall protestierte schon früh gegen die koloniale Macht und trat für die Unabhängigkeit seines Landes ein. 1951 ging Hall als gesellschaftlicher Aufsteiger mit einem Rhodes-Stipendium nach Oxford / Großbritannien als Student und Aktivist und wurde in Großbritannien ein Kulturtheoretiker. Hall erlebte Rassismus und das Gefühl, sowohl als Jamaikaner als auch als britischer Bürger ein Außenseiter zu sein. Während seiner Zeit in Großbritannien engagierte er sich in politischen Bewegungen, insbesondere in der New Left. Sein zentrales Thema wurde so mithin das Konzept der Identität als fluide und hybrid und beeinflusst durch Klasse, Rasse, Kultur und Geschichte. Seine kritische Auseinandersetzung mit der britischen Nachkriegsgesellschaft, die Verbindung des Marxismus mit postkolonialen Theorien und die Betonung von Rasse und Ethnizität sind als Themen besonders relevant für zeitgenössische Gesellschaften der Spätmoderne. Stuart Hall ist Mitbegründer der Cultural Studies. Er analysierte, wie Medien, Politik und Sprache Identitäten konstruieren. Er hinterfragte essentialistische Vorstellungen von Kultur und betonte stattdessen die Hybridität von Identitäten – eine Idee, die seine eigene Lebenserfahrung widerspiegelte. Das ist mithin eine Absage an die führende Rolle des Proletariats und betont stattdessen die große Bedeutung der Massenkultur. Ein zentrales Thema des Buches "Vertrauter Fremder" ist das Konzept der “Diaspora-Identität” – das Gefühl, nie vollständig einer einzigen Kultur oder Nation anzugehören. Hall beschreibt, wie er sich weder vollständig als Jamaikaner noch als Brite empfand, sondern als jemand, der zwischen diesen Welten steht. Vertrauter Fremder ist mehr als eine Autobiografie – es ist eine kritische Reflexion über Kolonialismus, Rassismus, Migration und die Konstruktion von Identität. Halls persönliche Erfahrungen dienen als Ausgangspunkt für tiefgehende theoretische Analysen, die für postkoloniale Studien und Cultural Studies von großer Bedeutung sind. Das Buch ist sowohl eine persönliche Lebensgeschichte als auch eine kritische Analyse der Nachwirkungen des Kolonialismus und der kulturellen Hybridität in einer globalisierten Welt. Stuart Halls Konzept des Encoding/ Decoding Im Jahr 1973 beginnt Hall in seinem Aufsatz "Encoding and Decoding in the Television Discourse" und später in seinem Buch "Culture, Media, Language" (1980) damit, auf semiotischer Grundlage Bücher, Bilder und Filme in einem allgemeinen Konzept des Textverständnisses als polyseme (=mehrdeutige) Texte zu beschreiben. Texte können mit drei verschiedenen Lesarten rezipiert werden: Dominant-hegemonial (das ist die gewünschte, offizielle Lesart), mit einer ausgehandelten (mit einem negotiated code = als Zwischenstufe mit Anteilen der dominant-hegemonialen und der eigenständigen / oppositionellen) und als oppositionell (die widerständige Lesart). Diese drei Typen differenzieren, inwieweit die im Text vorhandene ideologische Position mit der des Rezipienten korreliert und von ihm eingenommen wird. 1. Dominant-hegemoniale Lesart (Preferred Reading) • Der Rezipient akzeptiert die vom Produzenten intendierte Bedeutung vollständig. • Dies geschieht, wenn der Rezipient die gleiche kulturelle oder ideologische Perspektive wie der Produzent hat. • Beispiel: Eine politische Nachrichtensendung lobt eine Regierungsentscheidung, und der Zuschauer, der die Regierung unterstützt, stimmt ihr zu. 2. Aushandelnde (negotiated) Lesart • Der Rezipient akzeptiert einige Teile der kodierten Botschaft, lehnt aber andere Aspekte ab oder interpretiert sie anders. • Diese Lesart ist typisch für Menschen, die sich in Teilen mit der dominanten Ideologie identifizieren, aber gleichzeitig kritisch gegenüber bestimmten Aspekten sind. • Beispiel: Eine Werbung für ein Luxusauto kann die Botschaft vermitteln, dass Wohlstand und Status wichtig sind. Ein Zuschauer könnte dies teilweise akzeptieren, aber dennoch der Meinung sein, dass das Auto zu teuer ist oder dass Umweltaspekte wichtiger sind. 3. Oppositionelle Lesart (Oppositional Reading) • Der Rezipient lehnt die intendierte Bedeutung ab und interpretiert sie auf eine völlig andere, oft kritische Weise. • Dies geschieht, wenn jemand die zugrunde liegende Ideologie einer Botschaft erkennt und sich bewusst dagegen stellt. • Beispiel: Eine Nachrichtensendung stellt eine politische Demonstration als gewalttätig dar, aber ein Zuschauer, der die Demonstration unterstützt, erkennt darin eine bewusste Manipulation der Medien und lehnt diese Darstellung ab. Grundidee des Encoding/Decoding-Modells Hall argumentiert, dass die Bedeutung von Medienbotschaften nicht einfach von Sendern (z. B. Fernsehsendern, Zeitungen) an Empfänger (Zuschauer, Leser) weitergegeben wird. Stattdessen gibt es eine komplexe Beziehung zwischen Produktion, Vermittlung und Rezeption von Medieninhalten. Die Kernidee ist, dass Medieninhalte in zwei Schritten verarbeitet werden: 1. Encoding (Kodierung): Der Produzent einer Nachricht (z. B. eine Fernsehsendung, eine Nachrichtensendung oder eine Werbung) kodiert bestimmte Bedeutungen und Ideologien in die Botschaft. Dabei werden gesellschaftliche Normen, Machtverhältnisse und kulturelle Kontexte in die Darstellung einbezogen. 2. Decoding (Dekodierung): Der Rezipient (das Publikum) entschlüsselt die Botschaft auf Grundlage seines individuellen sozialen, kulturellen und politischen Hintergrunds. Dabei kann die Interpretation der Botschaft stark variieren. Bedeutung des Encoding/Decoding-Modells Halls Modell revolutionierte die Medien- und Kommunikationstheorie, weil es zeigte, dass Medienkonsum ein aktiver Prozess ist. Rezipienten sind keine passiven Empfänger, sondern interpretieren Medieninhalte je nach ihrem sozialen, kulturellen und politischen Kontext. Das Modell hat wichtige Implikationen für: • Medienkritik: Es zeigt, wie Ideologie durch Medien verbreitet wird und wie Menschen sie hinterfragen können. • Werbung und Propaganda: Es erklärt, warum manche Botschaften erfolgreich sind und andere nicht. • Kulturelle Repräsentation: Es zeigt, dass Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen Medien unterschiedlich wahrnehmen, was für Themen wie Rassismus, Geschlechterrollen oder politische Berichterstattung wichtig ist. Quellen: Stuart Hall: Vertrauter Fremder: Ein Leben zwischen zwei Inseln. Argument Verlag mit Ariadne. Kindle-Version: 2020/2022. ders.: Cultural Studies 1983. A theoretical History. Duke University Press: 2016. Oliver Marchart: Cultural Studies. Konstanz: UTB 2008. Rainer Winter: Der produktive Zuschauer. Medienaneignung als kultureller und ästhetischer Prozeß. München: Quintessenz 1995.


