Wie Hitler an die Macht kam
Mit "Die Entscheidung" gelingt Jens Bisky eine umfassende kulturwissenschaftliche Perspektive auf die komplexen politischen und sozialen Zusammenhänge der Weimarer Jahre und den Aufstieg der aufstrebenden Nazibewegung
Eine bisweilen anstrengende Lektüre angesichts der politischen Herausforderungen in den Jahren 1929 bis 1934 garantieren nicht nur die über 600 Seiten dieses Werks. Es ist vor allem eine atmosphärisch dichte Erzählung aus dem Blickwinkel der zeitgenössischen Politiker aus Regierung und Opposition, Philosophen, Kulturkritikern, Journalisten und fügt so ein Mosaik zusammen, das nicht durch eine konsistente Story getragen wird, sondern durch Kontrapunkte, Auslassungen und Fragezeichen Raum für ein "Was wäre gewesen, wenn ...?" lässt.
"Gesetzt den Fall, die Bierhallen-Putschisten von 1923 wären etwa mit Blick auf die Todesopfer härter, weniger verständnisinnig verurteilt und auf zwei Jahrzehnte von der politischen Betätigung ausgeschlossen, die NSDAP aufgelöst worden; gesetzt den Fall, man hätte danach alle paramilitärischen Verbände verboten, die Reichswehr in ein Heer der Republik umgewandelt, Hitler wäre wahrscheinlich in Bedeutungslosigkeit versunken."
Ausgangspunkt dieser Erzählung und damit der Anfang vom Ende ist der Tod Stresemanns. Im Jahr 1930 ist die NSDAP bereits zweitstärkste Fraktion im Reichstag. Stresemann hatte maßgeblich zur Normalisierung der deutschen Beziehungen zu Frankreich beigetragen und wollte die Isolation Deutschlands nach außen beenden. Die Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund im Jahr 1926 und zuvor das Zustandekommen des Dawes-Plans sowie eine diplomatische Revision des Versailler Vertrags gehören zu seinen Verdiensten. Im Oktober 1929 starb Stresemann nach mehreren Herzinfarkten und Schlaganfällen.
Ein Stein auf dem Weg zur deutschen Freiheit weggeräumt, gut so! Er hat sich dem kommenden Strafgericht entzogen.
Joseph Goebbels, im Jahr 1929 NSDAP-Gauleiter Berlin Brandenburg
Mitten in der Weltwirtschaftskrise, es war am 24. Oktober 1929 zum Börsencrash gekommen, zogen die Vereinigten Staaten alle Gelder aus Europa ab. Lag die Arbeitslosigkeit im Sommer 1929 bei 1,9 Millionen, so stieg sie bis März 1931 auf fünf Millionen, um im Februar 1932 den Höchststand mit 6,14 Millionen zu erreichen. Radikale Parteien wie NSDAP und KPD hatten enormen Zulauf und Zuspruch. Die nationalsozialistische Bewegung konnte vor allem bei den atypischen Arbeitern gewinnen: 27 % der Nazi-Wähler gehörten zur Arbeiterschaft. Ungelernte, aus der Landwirtschaft entflohene, unselbständig in kleineren Betrieben Beschäftigte, Postler, Straßenbahnfahrer ; die Verbindung zum Industrieproletariat und damit einem guten Organisationsgrad war bei ihnen schwach, ihre Einstellung war nationalistisch, sie orientierten sich an kleinbürgerlichen Lebensmodellen. Ausschlaggebend blieb jedoch die Konfession: Die Nationalsozialisten triumphierten besonders in protestantischen Regionen, so gewannen sie im Landvolk geprägten Schleswig Holstein 51 Prozent. Im Vergleich dazu der katholisch geprägte Wahlkreis in Köln/Aachen: 20,1 Prozent für die NSDAP, hingegen 40,5 Prozent für die Zentrumspartei.
Sechs Monate nach Stresemanns Tod war die Regierungskoalition unter Herrmann Müller (SPD) auseinandergebrochen und machte Platz für das Präsidialkabinett von Heinrich Brüning. Streitpunkt war die Erhöhung der Arbeitslosenversicherung um einen halben Prozentpunkt. Reichspräsident Paul von Hindenburg hatte den Rückgriff auf Artikel 48 der Weimarer Verfassung verhindert. Zentrum-Politiker Heinrich Brüning hatte sich bereits vor dem Rücktritt der Regierung Müller mit dem Reichspräsidenten verständigt, dass das neue Kabinett dem Reichspräsidenten größere Eingriffsmöglichkeiten und damit mehr politische Macht einräumt. Das Parlament wurde immer mehr ausgehöhlt durch die Spar- und Notverordnungen der Brüning-Regierung. Die Präsidialkabinette von Papen und Schleicher folgten. Und darauf schließlich Hitler.
Als Hitler Reichskanzler war, ließ er Kurt Schleicher und dessen Frau durch den Sicherheitsdienst der SS erschießen. Dieser in Auftrag gegebene Mord wurde von der Regierung Hitler verschleiert, mit daran beteiligt Roland Freisler, damals noch Staatssekretär des preußischen Justizministeriums. Im Zuge des Gesetzes über Maßnahmen der Staatsnotwehr nach den Bestimmungen des Ermächtigungsgesetzes vom 3. Juli 1934 wurde der Mord nachträglich "legalisiert", indem Schleicher staatsfeindliche Aktionen vorgeworfen wurden.
Wilhelm Groener, seit 1928 Reichswehrminister und seit 1931 zusätzlich als Reichsminister des Innern als Parteiloser in der Regierung, sagte später privat: "Mit Gewalt hätte man sie niederwerfen müssen!"
1929 begann der dreifache Angriff auf die Grundlagen der Weimarer Republik, die Verständigungspolitik (Stresemann) wich der nationalen Opposition und der faschistischen Koalition von Hugenberg, Selte und Hitler. Gleichzeitig versuchte man, Sozialdemokraten von einflussreichen Machtpositionen zu verdrängen. Mittels Artikel 48 wurde das Parlament ausgeschaltet. Bereits das Kabinett von Papen war offen reaktionär und autoritär.
Wenig kommt im Buch die Rolle der KPD zur Sprache. Sicherlich auch deshalb, weil die Stalinisierung der KPD glückte und diese gerade in den entscheidenden Jahren falsche Strategien verfolgte. Bei der Reichspräsidentenwahl 1925 unterlag der Zentrum-Vertreter Wilhelm Marx im 2. Wahlgang Hindenburg um nicht mehr als 800.000 Stimmen. Thälmann trat trotz der Brisanz Republik versus Monarchie im 2. Wahlgang an, erreichte abgeschlagen 6,4 % und hatte noch 60.000 Stimmen mehr als im 1. Wahlgang. Wahrscheinlich hätte Marx sein Amt nicht gegen die Republik missbraucht. 1932 gab es schließlich keinen Kandidaten für die Republik. Hindenburg wurde durch die SPD und die Katholiken unterstützt und die KPD gab die Losung aus: Wer Hindenburg wählt, wählt Hitler, wer Hitler wählt, wählt den Krieg! KPD-Kandidat Ernst Thälmann erreichte im 1. Wahlgang 13,2 % und im 2. Wahlgang 10,2%, während Adolf Hitler 2 Millionen Wählerstimmen hinzugewann. Hindenburg hatte Anfang Februar 1932 Meinungs- und Versammlungsfreiheit zum "Schutz des deutschen Volkes" gecancelt und Ende Februar 1932 die übrigen Grundrechte. Am 2. August 1934 starb Paul von Hindenburg und Reichskanzler Adolf Hitler hatte bereits am 1. August 1934 die Ämter des Reichspräsidenten und die des Reichskanzlers per Gesetz auf seine Person vereinigt.

1928/29 wächst der Druck auf die Republik.
Auf die wirtschaftliche Depression folgen verbreitete Unzufriedenheit, diverse politische Kippunkte zeitigen gesellschaftliche Umbrüche und es kulminierten verschiedene Entwicklungen.
Kooperationen mit der Hitler-Bewegung gibt es bereits in den 1920ern: Vermittelt durch die Gattinnen der Industriellen, welche die Salons für den Herrn Hitler öffnen. Das Radikale zog sie an.
Der Dortmunder Industrielle Albert Vogler und auch Fritz Thyssen wollen mit ihren Sympathien für die Hitler-Bewegung den Einfluss der SPD auf die Arbeiterschaft in ihren Konzernen zurückdrängen. Die Hitler-Bewegung hat ihre eigene Privatarmee, die SA.
"Wer heute auf das Ende Weimars zurückblickt, weiß:
Es ist politisch leichtfertig, nicht mit dem Schlimmsten zu rechnen."
Aus: Bisky, Jens: Die Entscheidung
In der Weimarer Republik wurde diese Privatarmee der Hitler-Bewegung zwei Mal verboten. Direkt nach dem Hitler-Putsch 1923 für ca. ein Jahr und schließlich durch das Präsidialkabinett unter Heinrich Brüning mit einer Notverordnung am 13. April 1932: Mittlerweile waren ca. 450.000 Männer Mitglied der SA.
Im November 1930 zählte die SA 60.000 Mitglieder; im August 1932 waren es bereits 471.384 Mitglieder. Röhm hatte bei seinem Amtsantritt im Januar 1931 eine SA mit knapp 77.000 Mann vorgefunden. Schon im April 1931 war sie auf 118.982 Mann angewachsen, im November 1931 hatte sie die 200 000-Mann-Grenze hinter sich gelassen. Im Dezember 1931 marschierten 260.438 Mann unter den Fahnen der SA. Im Sommer des Jahres 1932 waren es 455.000 Mann.
Wikipedia
Jens Bisky stellt anhand von Horst Wessel exemplarisch dar, worin für junge Männer die Faszination dieser SA lag. Horst Wessel hatte bereits durch seine Familiensozialisation sehr viel von dem Nationalprotestantismus übernommen. Das überhöhte sakralisierte Verständnis der Nation, die Ablehnung der Republik, die Hochschätzung des Militärischen. Wessels Vater war kaiserlich gesinnter protestantischer Pastor und ab 1913 Pastor an der Berliner Nikolaikirche. Der Großteil der Eliten war protestantisch. An den Universitäten war die Hitler-Bewegung seit Jahren erfolgreich.
Protestantische Universitätstheologen erkannten nun allerorten Krisen. Krise der Kultur, Krise der Moderne, Krise der europäischen Kultur, deutsche Krise, Wissenschaftskrise, Bildungskrise, Schulkrise, Wirtschaftskrise, Staatskrise, Krise des Historismus, Krise der Jugend, Krise des Führertums, Krise des Kapitalismus, Kirchenkrise, Krisis der Sozialdemokratie, Krise der kirchlichen Sozialarbeit, Krise der Predigt, Glaubenskrisis, Kirchenkrise, Krise der Religion, Weltkrise und überhaupt: Krise der Wirklichkeit. Zeitdiagnosen kamen selten ohne den Krisenbegriff aus, versprachen den Dingen auf den Grund zu gehen und einen Ausweg zu weisen.
Aus: Bisky, Jens: Die Entscheidung
Einer der schillernsten Philosophen in den 1920ern war Martin Heidegger, dessen existenzialistischen Begrifflichkeiten große Nachahmung fanden. "Sein und Zeit" (SuZ) aus dem Jahr 1927 traf den Nerv der Zeit. Hannah Arendt, Herbert Marcuse und Karl Löwith wurden seine Schülerin und seine Schüler. Für die Weimarer Kultur mit ihren produktiven Spannungen und unvereinbaren Gegensätze war Heideggers Philosophie so wertvoll wie Mischa Spolianskys Revuen oder Fritz Langs Filme.
Als Rektor der Universität Freiburg und frisches NSDAP-Mitglied nahm Martin Heidegger an der Bücherverbrennung im Universitätsstadion von Freiburg am 24. Juni 1933 teil und sprach angesichts der lodernden Flammen von "der Flamme der Revolution", als u.a. die Bücher von Sigmund Freud und von Franz Werfel auf dem Scheiterhaufen verbrannten.
In dieser Zeit nach dem verlorenen Krieg und dem Versailler Vertrag sah man in dieser juvenilen militanten Bewegung, den Schlägertrupps der SA, die sich Straßenschlachten mit dem Rotkämpferbund der KPD lieferten, neue Helden - auf dem Weg in eine heroische Gesellschaft? Folgt man Herfried Münkler so war der Nationalsozialismus "der Versuch der systematischen Transformation einer Gesellschaft in die Gemeinschaft".
"Die Republik war ein Kind der Niederlage. Diesen vermeintlichen Makel wurde sie nie los. Dem Versailler Vertrag mit dem Kriegsschuldartikel, dem Verlust von Territorien des Reichs, den militärischen Beschränkungen und den Reparationszahlungen empfand die übergroße Mehrheit als Unrecht und Demütigung. Das verlieh antidemokratischer Propaganda Plausibilität, der zufolge der Parlamentarismus von den Siegern aufgezwungen und undeutsch sei."
Aus: Bisky, Jens: Die Entscheidung
Siegfried Kracauer schrieb über die Zeit das Buch "From Caligari to Hitler" und konstatierte, dass das Kino der Weimarer Republik kein Ort herkömmlicher bürgerlicher Kultur war, ihm fehlte ein Bild der Freiheit.
Und so war Marlene Dietrich, als "Der blaue Engel" der Gegen-Entwurf zu den DDP, DVP, Zentrum und auch den SPD-Politikern der Elite dieser Zeit: Erstere entzog sich und ging mit von Sternberg nach Hollywood, um als Mitglied der US Army wiederzukommen, letztere hatten bis zum Schluss keine politische Strategie entwickelt.
Otto Braun, der bis 1932 SPD-Ministerpräsident von Preußen war und dort ein "republikanisches demokratisches Bollwerk" gestalten wollte,
sah im Rückblick eine immer stärker verblassende liberale Ideologie in der Endphase der Weimarer Republik. Mit den liberalen Grundsätzen und dem Parlamentarismus war der nationalistische Gleichheits- und Gemeinschaftsfanatismus unvereinbar. "Ehre, Einigkeit und Stärke" wurden die Schlagbegriffe der neuen Helden in einer Schule der Enthemmung und Bestialisierung zur politischen Religion.
Wie reich und lebendig die deutsche Demokratiegeschichte entgegen anderer Behauptungen war, zeigten die Parteien der Weimarer Koalition, die sozialdemokratische Arbeiterbewegung, der politische Katholizismus und der regelmäßig unterschätzte Liberalismus, der allerdings schon Ende der 20er Jahre Niederlage um Niederlage verkraften musste, bis seine Parteien im Versuch, ein rettendes Ufer zu erlangen, bedeutungslos wurden.
Aus: Bisky, Jens: Die Entscheidung
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