working class

Warum wir Arbeit brauchen, von der wir leben können. Das aktuelle Buch von Julia Friedrichs.

Bei Zeit Online las ich, dass die 1980 geborene Journalistin keinesfalls den heute angestaubt wirkenden und einschränkenden Begriff der Arbeiterklasse wählte, sondern davon schrieb, dass 50 Prozent der deutschen Bevölkerung zur working class gehören. All jenen nämlich, die ohne Kapital, ohne Reichtum, Erbe, ohne Vermögen, ohne Anlagen oder Immobilien nur von dem Lohn ihrer Arbeit leben müssen. 

Und so kaufte ich ihr Buch schließlich am #equalpayday. Dieser Tag, der auf die Lohnlücke zwischen Frauen und Männern aufmerksam machen soll, ist in meinem Verständnis inzwischen viel breiter zu fassen. So wie es die Kolumnistin von der "Süddeutschen", Teresa Bücker formuliert:

In der Summe mag es den Gender-Pay-Gap minimal reduzieren, wenn Frauen individuell bessere Gehälter aushandeln, aber der große Pay-Gap zwischen den Geschlechtern hängt an diskriminierenden Strukturen, die dazu führen, dass überwiegend Frauen in Teilzeit-Stellen arbeiten und die Löhne in Berufsgruppenwie der Altenpflege oder Kleinkindpädagogik zu niedrig sind. Eine Erzieherin, die in einer Gehaltstabelle eingestuft wird, hat von Verhandlungstipps gar nichts.
Teresa Bücker: Zwischenzeit_en. Newsletter auf steadyhq.com

Aber nun zum Buch von Julia Friedrichs. Das Cover zeigt drei Silhouetten in neonpink auf dunkelblauem Grund, die auf drei Berufsgruppen der working class hinweisen: Einen Kontrabassisten, eine Pflegefachkraft, die eine Spritze aufzieht und eine am Computer sitzende Wissensarbeiterin.
Der Kontrabass führt als Spur direkt zu einem Paar mit zwei Kindern (8 und 15 Jahre), das von Julia Friedrichs in seinem Alltag begleitet wurde. Alexandra und Richard haben mit ihren beiden Kindern für 200.000 Euro ein Haus gekauft: Ohne Erbe, sondern mit Bausparvertrag, Kredit per Makler und einem monatlichen Fixpreis von 1.300 Euro für Kreditzinsen, Tilgung, Strom, Wasser, Ölheizung. Die Bank gewährte keinen Kredit, weil sie als Musiker Freiberufler sind. Sie müssen beide arbeiten, um als Selbstständige über die Runden zu kommen - Netto kommen so 1.600 Euro pro Verdienst zusammen bei Stundenlöhnen zwischen 21 und 27 Euro Brutto als Honorarkräfte ohne Urlaubs- und Weihnachtsgeld. Alexandra erzählt, dass an der Musikschule im Jahr 2011 zum letzten Male die Honorare für die MusiklehrerInnen angehoben wurden: von 19,43 Euro auf schlappe 21 Euro. Inflationsmäßig berechnet sind die damaligen 21 Euro heute soviel wie 18,80 Euro wert.
Eine sichere Anstellung wie noch in den 1980ern, so erzählt es Julia Friedrichs Vater, der selber Lehrer ist, bleibt ein ferner Traum für die beiden. 

Sait geht es ähnlich als Familienvater mit zwei Kindern: Sait reinigt seit 2002 die Bahnsteige der Berliner U-Bahnhöfe. Angefangen hat er mit 8,30 Euro im Jahr 2002. Seit Herbst 2020 verdient er erstmals 10,56 Euro pro Stunde, aber gleichzeitig wurden seine Stunden auf 35 pro Woche runtergefahren. Unterbietungswettbewerb seiner Firma mit den Berliner Verkehrsbetrieben: Mehr Bahnhöfe schaffen in kürzerer Zeit. Bleiben 1.600 Euro Brutto plus das Lehrgeld seines Sohnes und die 10 Euro Brutto pro 6 Stunden seiner Frau als Näherin. "Heutzutage geht man zu zweit arbeiten, und das Geld reicht nicht. Das tut auf eine Art und Weise weh", erzählt Sait.

Julia Friedrichs kann anhand dieser genauen und empathischen Schilderungen und guter Recherche den gesellschaftlichen Abwärtstrend seit den 1990er Jahren markieren: Die Löhne sackten seit Mitte der 1990er Jahre für heute fast 8 Millionen Menschen in Deutschland auf Niedriglohnniveau ab. Was sich stark erhöhte waren die Lebenserhaltungskosten, die Mieten und die Kosten für Strom wurden verdoppelt, Sozialabgaben stiegen. Die Fernsehjournalistin geht auf Spurensuche der gesellschaftlichen Umbrüche und bezieht auch ihre eigene Familiengeschichte mit ein. Die aus einer Lehrer-Familie stammende gebürtige Westfälin wuchs in der Nachkriegsmoderne der 1980er Jahre auf, wo noch ein Gehalt für einen guten Wohlstand in Reihenhaus-Idylle ausreichte. Lehrer und Lehrerinnen hatten Festanstellungen, wie ihr Vater berichtet und waren nicht in prekären Nöten wie Alexandra und Richard in den 2020ern. Und natürlich nimmt Julia Friedrich hierbei Bezug auf die durch Ulrich Beck plastisch als Aufstiegsgesellschaft skizzierte Nachkriegsmoderne, das ist eine der zahlreichen Stärken ihres Buches: Die Autorin recherchiert gründlich die zahlreiche Wissenschaftsliteratur zum Thema und stellt sie sprachlich sehr gut lesbar dar. In der Aufstiegsgesellschaft (bzw. nivellierten Mittelstandsgesellschaft, wie Helmut Schelsky schrieb) blieben Ungleichheiten bestehen, aber sozialer Aufstieg, Bildungschancen, Einkommen, Freizeit und Konsum stiegen auch für die Arbeiterinnen und Arbeiter. 

Ulrich Beck, Richard Sennett und Andreas Reckwitz sind hierbei die wichtigen Säulen, diese gesellschaftlichen Umbrüche analytisch zu untersuchen und einzuordnen. Aber auch Expertinnen und Experten der Finanzwirtschaft wie der Ex-Weltbank-Ökonom Branko Milanovic oder Philippa Sigl-Glöckner, ebenfalls eine bekannte Ex-Weltbank-Ökonomin und nun Büroleiterin von Bundesfinanzminister Olaf Scholz, werden von Julia Friedrichs befragt. 

Arbeit verliert und Kapital gewinnt

Sigl-Glöckner erinnert sich an das durch von Hayek und Röpke begründete Framing, nur innerhalb des neoliberalen Paradigmas zu denken. Milanovic verglich die Einkommensdaten der vergangenen 30 Jahre und macht zwei Gruppen als Globalisierungsgewinner aus - die ohnehin Reichen der 1 Prozent Oberschicht, deren Reichtum einen steilen Anstieg nach oben nimmt. Und es gibt eine neue Mittelschicht in Asien, vor allem in China und in Indien. Milanovic skizziert dabei das Bild eines Elefanten: Die 1 Prozent Oberschicht ist der Rüssel, Buckel und Kopf formt die zweite Gruppe der neuen Mittelschicht. Hingegen sind die realen Einkommen der unteren Mittelschicht der reichen Industrieländer seit den späten 1980er Jahren gesunken. Langsam stiegen die Einkommen der ärmsten Schichten in Asien. Friedrichs zitiert aus dem deutschen Bundeswirtschaftsministerium, dass "im Jahr 2015 .. die realen Bruttolöhne der unteren 40 Prozent zum Teil deutlich niedriger als 1995 [waren]". Mit Einführung der Mindestlöhne versucht man deshalb, diesem Trend entgegen zu wirken, was nur teilweise gelang. Mit dem Wirtschaftswissenschaftler Tim Bönke spricht Friedrichs über die ungleiche Verteilung der Einkommen in Deutschland, wo sich seit 1980 die Volkswirtschaft mit BIP verdoppelte und pro Kopf und preisbereinigt um 53 Prozent gestiegen ist. Bönke macht auf die Unterschiede durch die Globalisierung aufmerksam: Auf Arbeiter erhöhte sich der Druck durch die weltweite Konkurrenz, während es für die Systemgewinner nach oben ging: "Es gibt eine internationale Nachfrage nach sehr gut ausgebildeten westlichen Führungskräften. Dazu gibt es einige Berufsgruppen wie Anwälte, Banker, Versicherungsmakler oder Immobilienverkäufer, die wesentlich höher bezahlt werden, als ihre Produktivität eigentlich zulassen würde. Diese Menschen belohnt das System."

Heißluftballons

Ungleiche Verteilung der Vermögen ist das Thema von Vermögensforscher Markus Grabka, der annähernd diese Verhältnisse beschreibt mit den 99 Prozent, die durch die reichere Hälfte in Deutschland gehalten werden, von denen wiederum die wohlhabensten 10 Prozent 60 Prozent inne haben. Dieser Reichtum ist nicht erarbeitet, 50 Prozent werden vererbt oder verschenkt.

In der Regel, sagt Markus Grabka, sei der deutsche Vermögende eher alt, westdeutsch und männlich. "Frauen ganz oben gibt es kaum, und wenn, sind sie Witwen oder eingeheiratet."
Aus: working class. Warum wir Arbeit brauchen, von der wir leben können. von Julia Friedrichs

95 Prozent der Bevölkerung sei bereits mit einem Vermögen unter 50.000 Euro abbildbar, auf einem Zentimeter kariertem Papier. Der Rest? Treibt in Heißluftballons in der Atmosphäre. 

Die goldenen 1980er Jahre 

Früher war alles besser, diese Kurzformel ist für die Nachkriegsmoderne auf den Punkt gebracht, wenn es um die Perspektiven für jedermann ging, Wohlstand zu bilden. Sparerfreibeiträge, vermögenswirksame Leistungen, Bauförderungen waren seit Ludwig Erhard die Zauberworte für den Aufschwung. Aus den Mäusen auf dem Sparbuch waren in überschaubarer Zeit Mäusenester geworden mit Tages- und Festgeldern, Bausparverträge, Sparkonten brachten Zins und Zinseszins, fünf Prozent damals. 2018 warnten Banken Anleger davor, dass sich ihre Zinsen in Negativzinsen verwandeln können und sie draufzahlen müssen.

Milanovic, der Ökonom mit dem Elefanten, macht die Zeichen der gesellschaftlichen Umbrüche in den 1980er Jahren fest: Bei Einkommen und Vermögen vergrößert sich die Schere, Akademiker bekommen höhere Gehälter als Arbeiter und Angestellte ohne Studienabschlüsse und die Unterschiede zwischen den sozialen Schichten werden größer - und natürlich bildet hierfür die Globalisierung mit dem Neoliberalismus seit den ausgehenden 1980ern den Rahmen. Julia Friedrichs blendet an dieser Stelle des Rückblicks populäre westdeutsche Fernsehserien dieses Jahrzehnts ein, wie die "Schwarzwaldklinik", "Ich heirate eine Familie", "Diese Drombuschs" und die "Lindenstraße" und beschreibt skizzenhaft die wie aus einer fernen Zeit stammenden Inhalte - so kauft Dr. Dressler seiner Geliebten für 50.000 DM in der City Münchens eine Eigentumswohnung, Vater Beimer verdient als Sozialarbeiter mit drei Kindern 3.494 DM und zahlt 780 DM Miete - unterm Strich blieben dem armen Mann nach allen Abzügen der Fixkosten - inklusive der musischen Bildung seiner Brut - schlappe 2.000 DM zum Leben, wie Hansemann erregt vorrechnet. Auch in der bundesdeutschen Wirklichkeit reichte ein Einkommen, zwei Drittel aller Frauen mit zwei Kindern waren Hausfrauen. So eine Kindheit hatte auch Christian, ungefähr die Generation von Julia Friedrichs, "ein Kind der alten Bundesrepublik", mit dem Vater als Ernährer. Christian erinnert sich, dass er 100 DM aus seinem Taschengeld für den Sony-Walkman Anfang der 1980er Jahre bezahlte - an den musste ich mich auch erinnern, aber ich bezahlte 750 Ostmark für das gleiche Produkt in der DDR. Christian lebte mit seinen Eltern in materieller Sicherheit mit Haus und Garten, zwei Autos und einer Garage mit acht Fahrrädern: "Wir lebten im westdeutschen Wohlstand, der erarbeitet war." Hilfe für die Schule brauchte er keine, denn eine Schullaufbahn war nicht an hohe Erwartungen geknüpft. Dass mal ein anständiger Mensch aus ihm wird, war das Bildungsziel.

Ex-Weltbank-Ökonom Paul Collier hatte ähnliche Erinnerungen an seine Kindheit, auch er brauchte keine Hilfe oder Kontrolle. Heute hingegen wird sein Sohn von ihm naturwissenschaftlich beschult, von der Mutter in Latein und extra ist ein Privatlehrer engagiert. Christian lernte Konditor und machte das Abitur auf dem 2. Bildungsweg - er war der erste in seiner Familie, der überhaupt Abitur machte. 

Heute gilt: Wenn Abitur zum normativen Wert wird, verlieren alle anderen Abschlüsse.

Die Geschichte von Christian ist exemplarisch für die Abwertung von beruflichen Karrieren. Er bekam in seiner Firma eine Chefin vor die Nase gesetzt, die seine Beförderung rückgängig machte, wodurch seine antrainierten Reflexe: *Wenn man fleißig und arbeitsam ist, dann wird man belohnt* außer Kraft gesetzt wurden. Ein Break, ein Bruch der Erzählung des eigenen Lebens. Dafür schafften andere diese Sprünge. Christians Gesundheit wird schließlich in einem U-Bahnschacht fürs restliche Leben lädiert sein, weil er mit diesen schmerzhaften Brüchen direkt in einen Burnout raste.

Die Goldene Generation

 Das Gespräch mit einer erfolgreichen Rundfunkjournalistin aus der Goldenen Generation, die ihre Berufskarriere in den 1970ern begann, ist sehr aufschlussreich und markiert berufsbiografisch sehr genau die gesellschaftlichen Umbrüche. 

Seit dem Jahr 2018 erhebt der Berufsverband Freischreiber die Honorare freier Journalistinnen und Journalisten. Im Schnitt lag das Brutto-Stundenhonorar bei 22,73 Euro - vor Abzug von Steuern sowie Urlaubs- und Krankheitstagen. Ähnlich dem, was Alexandra und Richard verdienen. Ein Viertel der Lokaljournalisten erhält weniger als 10 Euro brutto in der Stunde, ein "Taschengeld", kommentiert der Berufsverband.
 Aus: working class. Warum wir Arbeit brauchen, von der wir leben können. von Julia Friedrichs 

Die Freien also mit unter 10 Euro brutto quasi ehrenamtlich und hobbymäßig, nicht wie ein Beruf, der existenzsichernd ist. Hingegen sind die gerade in die Rente entlassenen fest angestellten Redakteure die "Generation 110 Prozent", wie die Fernsehjournalistin Julia Friedrichs schreibt, "weil sie, ähnlich wie ihre Generationsgenossen bei großen deutschen Unternehmen mit Betriebsrenten so "überversorgt" sind - wie es selbst die Gewerkschaft nennt -, dass sie im Alter ein höheres monatliches Netto haben als in ihrer aktiven Zeit. Bis Anfang der 1990er Jahre machten die Sender ihren Redakteuren dieses teure Versprechen für die Zukunft, das jetzt, oh Wunder, die Etats einschnürt. Man habe das Ganze 'auf der Zeitschiene wohl nicht so durchgerechnet', sagt mir einer der Verhandler am Telefon."

Scheint eine Spezialität der Nachkriegsgeneration gewesen zu sein. Rentenkasse? Klima? Staatsverschuldung? Aufstiegschancen? "Wir haben das auf der Zeitschiene wohl nicht so durchgerechnet."
  Aus: working class. Warum wir Arbeit brauchen, von der wir leben können. von Julia Friedrichs  

Plastisch wird diese Generationsschuld am Beispiel des langjährigen NDR-Redakteurs Christoph Lügert: Als Studienabbrecher bekam er am Anfang seiner Karriere alle Chancen eingeräumt: Eine Volontärsstelle und daran nahtlos eine Festanstellung auf Lebenszeit - der Standort konnte nach Ausbildungsende frei gewählt werden und jedes neue berufliche Angebot war immer besser dotiert als der bisherige Vertrag. 

"In meiner Generation", schreibt er, "können sich viele an ihren großzügigen Renten erfreuen", und das, ergänzt er, ohne sich, wie die Alten zuvor, darauf berufen zu können, Deutschland nach dem Krieg wiederaufgebaut zu haben. "Wir sind auf vielfältige Weise bloße Nutznießer dessen, was unsere Vorfahren geleistet haben."
Zitiert nach Julia Friedrichs, Aus: working class. Warum wir Arbeit brauchen, von der wir leben können. 

Die Karriere der Rundfunkjournalistin verlief ebenso geradlinig nach oben und sicher - sie begann 1980 als Julia Friedrichs geboren wurde. Viele Freiheiten beim öffentlich rechtlichen Rundfunk, freie Themenwahl, nach einem Jahr als Freie und Wechsel zu einer Lokalzeitung dann schließlich doch eine Festanstellung auf Lebenszeit, nach Umzug in eine andere Stadt klappte es sofort mit der nächsten Festanstellung. Die Etats waren ohne Limit.

"Um einen sechsminütigen Beitrag über eine neue Ausstellung einer Künstlerin zu machen, fuhren wir mit einem kleinen Bus, in dem sechs Personen saßen: ein Fahrer, ein Kameramann, ein Tonmann, ein Lichtmann, eine Produktionsassistentin, die dafür gesorgt hat, dass alle Markennamen abgeklebt werden, und ich als Redakteurin. Das waren alles Leute, die fest angestellt waren, sicher in Lohn und Brot."
 Zitiert nach Julia Friedrichs, Aus: working class. Warum wir Arbeit brauchen, von der wir leben können.

Das Berufseinsteigergehalt für die Redakteurin Viola lag bei 3.300 DM brutto, es gab keinerlei Unsicherheit, dass sich das Leben nicht finanzieren ließe. Ab Mitte der 1990er Jahre fingen die Sender an, einzusparen. Und um die Jahrtausendwende platzte die Medienblase endgültig - das beschrieb schon Katja Kullmann in "Echtleben", ihrem 2011 erschienenen Buch über die Prekarisierung der Medienbranche. Als Boomer-Generation saß nun die ältere Redakteurin V. auf der anderen Seite des Schreibtisches und musste jüngeren Berufseinsteigern mit guten Qualifikationen und Talenten die Illusion auf Festanstellungen nehmen. 

Wer heute in den Job geht, muss wissen, dass es schwierig wird, damit sein Leben zu bestreiten. Es gibt natürlich ein paar, die absolute Spitze sind, von denen jeder weiß: Egal, wo du sie hinschickst, sie kommen mit einem exzellenten Stück zurück. Die können gut davon leben. Aber auch sie haben immer das Gefühl: Wie geht es weiter? Werde ich wirtschaftlich auf Dauer existieren können?`Ich glaube, dass diese Lage bei vielen einhergeht mit einer Desillusionierung, auch mit einer Müdigkeit, weil die Belohnung für die Anstrengung, die feste Stelle, gar nicht kommen konnte.
Redakteurin Viola, Aus: working class. Warum wir Arbeit brauchen, von der wir leben können. von Julia Friedrichs

Julia Friedrichs wirft eine spannende Frage auf, direkt an Viola aus der Goldenen Generation der Boomer gerichtet: Was sie empfunden habe beim Überbringen solch schlechter Nachrichten für Jüngere, dass diese trotz bester Ausbildung keine Hoffnung auf sichere Arbeit haben werden. Nichts, sagte Viola, denn es sei ja nicht ihre Schuld, mit einem Schulterzucken.

Woher rührt dieses krasse Ungleichgewicht zwischen den Generationen? Julia Friedrichs macht sich auf die weitere Spurensuche und spricht mit Verantwortlichen in Gewerkschaften über diese Verhandlungen der Altersbezüge. Keine Instanz bemerkte die klaffende Finanzierung für künftige Generationen. Dem stimmt einer der Gewerkschafter zu, aber rückgängig machen ließ sich dies im Nachhinein nicht mehr, bezüglich der Rechtmäßigkeit dieser Bezüge.

Friedrichs denkt an einen Solidaritätsfonds der heutigen Boomer für jüngere Generationen. Würde nicht funktionieren, sagt der eine von der Gewerkschaft, Redakteurin Viola wäre mit 100 Euro im Monat ihrer Rente dabei.

Mit Milliarden Steuerzuschüssen wird man die Unwucht im System noch einige Zeit übertünchen können. Aber die Stützmaßnahmen werden immer teurer, und sie lösen das Problem nicht: Die Generation derer, die heute alt sind, hat ein Rentengebäude gezimmert, das für die, die nachkommt, nicht mehr hält. Sie hätten entweder mehr Kinder zur Welt bringen müssen, sich pro Jahr weniger Geld auszahlen dürfen oder, die naheliegende Lösung: länger arbeiten müssen.
 Aus: working class. Warum wir Arbeit brauchen, von der wir leben können. von Julia Friedrichs 

Selbst der befragte Kevin Kühnert, zum damaligen Zeitpunkt noch Juso-Vorsitzender, antwortet Julia Friedrichs, dass er als Kind von Beamten dieses System der Altersvorsorge für falsch hält, das überwunden werden muss. Allerdings sind Friedrichs Gespräche mit den Jugendvorsitzenden der Parteien CDU, Grüne, SPD und FDP erschreckend in meinen Augen: Weder mit Visionen der Befragten verbunden, noch mit Vorstellungen, wie die gegenwärtige Misere der steigenden Ungleichheit bewältigt werden kann. Zumindest ist die Einsicht bei ihnen zu finden, dass ihre Elterngeneration eine miserable Hypothek hinterlassen hat. Und, das kommt erschwerend hinzu, heute sind die über 50 Jährigen die größte Wählergruppe mit 60 Prozent und sie bleiben es auch. 

Bildung, Klima, Kinder, Rentensystem und Staatskasse sind als Nachlass der Goldenen Generation der Babyboomer defizitär und ein Schuldensystem, für das nachfolgende Generationen schon lange zahlen. "Die schamlose Generation" nennt Sven Kuntze die Babyboomer, seine Generation.

Und wie sieht die Rentenprognose aus für Christian, Alexandra, Richard und Sait? Christians Rentenbescheid weist 1.500 Euro Brutto aus, Netto ca. 1.200 Euro, bei Richard wies die Rentenversicherung 1.300 Euro Brutto aus, so dass Alexandra davon ausgeht, dass beide weit über das Rentenalter hinaus unterrichten werden. Sait bekäme 739 Euro Brutto, seine Frau höchstens 800 - die vor Jahren als "Riesterrente" abgeschlossene Zusatzrente erwies sich als Bluff. Er wird wohl mit seiner Frau in die Türkei zurückgehen.

Zurück in die Zukunft

Und dann kommt auch noch Corona. Friedrichs trifft Marcel Fratzscher, den Präsidenten des Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) und fragt ihn, ob nun die schwebenden Heißluftballons von ihrem Reichtum an die Gesellschaft abgeben werden. In den USA gibt es "The giving pledge" von Superreichen, die zu ihren Lebzeiten einen Großteil von Vermögen an die Gesellschaft spenden. Einzelne deutsche Fußballer starteten solche Initiativen, wie Marco Reus, Joshua Kimmich und Leon Goretzka. Doch bei den deutschen Superreichen ist Fratzscher kein Aktionismus bekannt. Angesichts eines Staates, der nun Milliarden-Hilfspakete auflegen musste, eine weitere Bankrotterklärung für jene, die seit den 1990ern fett verdienten, im Gegensatz zum Gros der Arbeitenden.

Julia Friedrichs trifft schließlich auch Wolfgang Schmidt, den Staatsekretär von Finanzminister Olaf Scholz, aus dem "Cockpit der Regierung". 

Ich wehre mich dagegen, dass man sagt, die SPD ist schuld, sagt Schmidt. Manche Dinge sind nicht zu ändern. Die verschärfte Globalisierung hat den Lohndruck in den Industriegesellschaften extrem verstärkt. Du hast die gleiche Geschichte über die Clinton-Jahre in den USA, du hast sie in Frankreich, in Schweden, in Großbritannien. Es war ein historischer Zufall, dass die sozialdemokratischen Parteien zu dem Zeitpunkt an den Regierungen waren, als die neue Phase der Globalisierung begann.
Wolfgang Schmidt, Aus: working class. Warum wir Arbeit brauchen, von der wir leben können. von Julia Friedrichs  

An dieser Stelle gibt es den Einspruch der Ökonomin Philippa Sigl-Glöckner, die an die Steuerungsfunktionen des Staates erinnert: "Der Staat kann gute Standards auf dem Arbeitsmarkt setzen, gerade bei den sozialen Dienstleistungen. (...) Wir könnten, fährt sie fort, ein wesentlich stabileres System haben, weil diese höheren Nettolöhne dann auch den Konsum im Land antreiben würden und wir mehr für die heimische Wirtschaft produzieren und weniger exportieren würden."

Wolfgang Schmidt erinnert nochmal an die beiden unterschiedlichen Herangehensweisen durch Adenauer nach dem 2. Weltkrieg und durch die Kohlregierung nach der (Wieder)Vereinigung: Unter Adenauer wurde nach dem Krieg das Lastenausgleichsgesetz für 30 Jahre verabschiedet und Vermögende mussten 1,5 Prozent ihres Vermögens an die Gesellschaft geben. Die Kosten der (Wieder)Vereinigung wurden aus Steuermitteln und über die Sozialkassen beglichen, also über Arbeit und Konsum. Der Lastenausgleich nach dem 2. Weltkrieg sorgte für die Nivellierung und die Gleichheit zwischen den verschiedenen Schichten. An dieser Stelle schiebt Julia Friedrich - nach ein paar Seiten natürlich - ein Zitat von Reckwitz aus dem "Ende der Illusionen" nach, der diese Nachkriegsgesellschaft denn auch als das patriarchal geprägte Modell mit dem männlichen Ernährer der Kleinfamilie und der Frau als Hausfrau der nivellierten Gesellschaft markierte und davon spricht, dass dies nicht nur eine romantisierende Erinnerung sei, sondern immer noch Bezugspunkt für links wie rechts ist und als normative Folie und als Bezugsrahmen dient. Die 41 Jährige Julia Friedrichs plädiert nachdrücklich dafür, angesichts der gegenwärtigen heterogenen und diversen Gesellschaft sich von diesem nostalgischen Bild zu trennen und stattdessen den Blick für etwas Neues nach vorn zu richten.

Und nun?

Klar, theoretisch mag der Bruder unseres Wirtschaftssystems, der Sozialismus, faszinierender sein. Aber tatsächlich mit ihm leben? Schwierig. Ich möchte keinem Staat unterworfen sein, der mir vorschreibt, was ich zu tun habe, wovon ich träumen soll, wie viel ich besitzen oder konsumieren darf. Die Idee, dass jede die Freiheit hat, zur Autorin des eigenen Lebens zu werden, ist unübertroffen. Ich mag den Wettstreit und die Belohnungen am Ende. Das Problem ist nicht das Spiel, sondern dass es nach offensichtlich unfairen Regeln gespielt wird. Vielleicht können die, die in den letzten Jahren immer mit zwei Würfeln würfeln durften, einfach mal ein paar Runden aussetzen.
Julia Friedrichs, working class. Warum wir Arbeit brauchen, von der wir leben können. 

Im Abgang schwächelt das Buch, man sieht es an diesem Zitat. Dass die fragende Julia Friedrichs keine Patentrezepte entwickeln muss, ist mir klar und dass alle Befragten und bemühten Autorinnen und Autoren dies ebensowenig taten und tun, ebenso, doch am Schluss des Buches besteht Julia Friedrichs Fazit letztlich darin, den Kapitalismus zähmen zu wollen und ihn zurück in die Realwirtschaft zu führen. Ich will dies nun nicht als falsch bewerten, sondern erinnere mich an das im Jahr 2016 von Sahra Wagenknecht veröffentlichte Buch "Reichtum ohne Gier. Wie wir uns vor dem Kapitalismus retten", das besonders unter Mitgliedern der Linken furchtbar verrissen und sie als Keynesianerin beschimpft wurde, wenngleich ihr Buch für volle Hörsäle und Veranstaltungen sorgte und gute Kritiken erhielt. Die promovierte Wirtschaftsexpertin schlug genau diesen Weg ein: Einen Pfad zu suchen zum Wettbewerb der inhabergeführten Unternehmen, der Startup's, von Genossenschaften und hin zum Talentwettbewerb und zur Förderung von Innovation für das Gemeinwohl und so eine neue Wirtschaftsordnung zu gestalten.

"The future is unwritten" sagt hingegen Staatssekretär Wolfgang Schmidt aus dem SPD geführten Finanzministerium im letzten Gespräch und es bleibt am Ende auch so ein bißchen das Narrativ einer sozialdemokratischen Erzählung hängen, die nun gerade im Superwahljahr 2021 am Beginn des Wahlkampfes ihren Abschluss findet. Unbeschadet davon gelingt Julia Friedrichs durch die lange Begleitung ihrer porträtierten Gesprächspartnerinnen und -partner ein wichtiges Stück Zeitgeschichte, in welchem sie hochaktuell auch die lange Phase der Corona-Pandemie in Deutschland authentisch beschreibt: Gut getrennt sind hierbei die Perspektiven der Protagonisten und Protagonistinnen und ihr eigener Point of view, das ist sehr angenehm zu lesen und vermag dadurch auch, Haltungen zu beschreiben. Julia Friedrich verleugnet ganz und gar nicht, als Fernsehjournalistin auch politisch zu denken, sich von Haltungen zu distanzieren oder andere zu bekräftigen. 

Ich möchte dieses Buch ausdrücklich empfehlen, denn es bietet für Menschen verschiedener Generationen den Effekt des Wiedererkennens: Auch der eigenen Familiengeschichte, der 1980er Jahre West wie für Julia Friedrichs oder jene der 1970er Jahre wie für mich - wenngleich ich es sehr schade finde, dass Julia Friedrich niemanden mit Ost-Biografie porträtierte. Dieses Buch ist ein wichtiger Ansatzpunkt für Diskussionen und Diskurse darüber, wie wir unsere Zukunft gestalten werden: Inbegriffen ist hierbei die kritische Reflexion derer in den Parlamenten, die für unsere Zukunft die Rahmenbedingungen setzen. Julia Friedrichs zeigte sehr anschaulich, dass anscheinend Kontrollinstanzen und Kontrollfunktionen versagt haben bezüglich der Gestaltung dieser Zukunftsmöglichkeiten.

© Maximilian Kretzschmar, Alle Rechte vorbehalten

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von Maximilian Kretzschmar 26. März 2025
Yascha Mounk wurde 1982 in München geboren und ist der Sohn einer polnischen Jüdin, die im Jahr 1969 aufgrund einer Säuberungswelle in der Kommunistischen Partei Polens mit ihren Eltern Polen verlassen musste. Mounk hat sich aus eigenen Erfahrungen mit Migration schon sehr früh mit dem Liberalismus und dem Ideal einer multiethnischen Gesellschaft befasst sowie deren Herausforderungen und Gefährdungen. Mounk studierte seit dem Jahr 2005 in den USA Regierungswissenschaft und erwarb den Ph.D.-Titel an der Harvard-Universität. Er lebt in New York und nahm im Jahr 2017 die amerikanische Staatsbürgerschaft an, um der Präsidentschaft von Donald Trump so besser entgegen treten zu können. Unabhängigkeit der Justiz Bereits vor fünf Jahren analysierte Mounk die Bedrohungen für liberale Demokratien durch Populismus, den Verlust des Vertrauens in Institutionen und die wachsende Polarisierung der Gesellschaft durch extreme Parteien. Mounk plädiert für die Unabhängigkeit der Justiz, so zum Beispiel unabhängige Ernennungsverfahren, bei denen die Auswahl und Ernennung von Richtern transparent und ohne direkten Einfluss der Exekutive oder Legislative erfolgen soll, z. B. durch unabhängige Kommissionen. Wichtig ist die finanzielle Autonomie der Justiz. Die Justiz sollte ein unabhängiges Budget haben, um ihre Funktionsfähigkeit zu garantieren und politischen Druck zu vermeiden. Karriereschutz für Richterinnen und Richter: Mechanismen zur Sicherstellung, dass Richter nicht durch politische Entscheidungen in ihrer Karriere behindert oder benachteiligt werden. Die Freiheit der Presse Yascha Mounk setzte sich mit dem Schutz und der Freiheit einer unabhängigen Presse auseinander. Gesetzlicher Schutz der Pressefreiheit: Gesetze sollten die freie Berichterstattung garantieren und den Einfluss staatlicher oder wirtschaftlicher Akteure begrenzen. Eine transparente Medienfinanzierung: Die Unabhängigkeit kann durch Förderprogramme unterstützt werden, die staatliche Gelder bereitstellen, aber klare Schutzmechanismen gegen politische Einflussnahme enthalten. Quellenschutz für Journalistinnen und Journalisten: Der rechtliche Schutz von Informanten ist essenziell, um investigativen Journalismus zu ermöglichen. Und schließlich ist die Förderung von Medienvielfalt wichtig: Die Unterstützung unabhängiger und lokaler Medien sowie der Abbau von Monopolen stärken den pluralistischen Informationsfluss. Auch mittlerweile sechs Jahre später hat Mounks Buch nichts von seiner Aktualität eingebüßt, nicht zuletzt wegen der gewonnenen zweiten Präsidentenwahl durch Donald Trump im Herbst 2024. Angesichts dessen fast täglich herausgegebenen Dekreten und dem gefährlichen Rückbau des Rechtsstaats durch Elon Musks DOGE (deutsch: Abteilung für Regierungseffizienz, offiziell U.S. DOGE Service Temporary Organization), welche die "Regierungseffizienz und -produktivität erhöhen soll" und staatliche IT-Systeme modernisieren soll. Yascha Mounks Empfehlungen zur Stärkung der Gewaltenteilung zeigen, dass diese wirksame Mittel des Rechtsstaates gegen autokratisches Macht-Gebaren wie von Trump praktiziert, beinhalten: Die Legislative und die Judikative müssen ihre Kontrollfunktion gegenüber der Exekutive konsequent wahrnehmen. Gerichte können beispielsweise Dekrete blockieren, die gegen die Verfassung verstoßen, wie es bereits in einigen Fällen geschehen ist. Unabhängige Medien und Zivilgesellschaft: Eine freie Presse und aktive Bürgerbewegungen spielen eine Schlüsselrolle, um Missstände aufzudecken und öffentlichen Druck aufzubauen. Sie können dazu beitragen, Transparenz und Rechenschaftspflicht zu fördern. Rechtsstaatliche Checks and Balances: Institutionen wie der Kongress und unabhängige Behörden müssen ihre Befugnisse nutzen, um exekutive Übergriffe zu verhindern. Dies könnte durch verstärkte Aufsicht und Untersuchungsausschüsse geschehen. Demokratische Prozesse wie Wahlen und Proteste sind essenziell, um autokratische Tendenzen zu bekämpfen. Eine informierte und engagierte Wählerschaft kann Veränderungen herbeiführen. Bildung und Aufklärung, letztlich eine informierte Bevölkerung ist weniger anfällig für Propaganda. Bildungsprogramme und unabhängige Medien können helfen, kritisches Denken zu fördern.Der Druck durch internationale Aufmerksamkeit kann dazu beitragen, dass demokratische Standards eingehalten werden. Die Identitätsfalle Im Jahr 2024 erschien Yascha Mounks Buch "Im Zeitalter der Identität: Der Aufstieg einer gefährlichen Idee", mit welchem der Politologe sich keineswegs zum Trumpianer entwickelt hat, sondern seine grundlegende Frage formuliert, warum die Linke ihren Universalismus aufgegeben habe? Denn mit der Betonung von Gruppen-Identitäten, so argumentiert Mounk, wird nicht nur vormals marginalisierten Gruppen gesellschaftliches Gehör verschafft, sondern identitäres Denken verführe dazu, Spaltungen in der Gesellschaft zu vertiefen. Die Gefahr des Gruppendenkens, eine übermäßige Fixierung auf Gruppenidentität könne zu einer Art „wir gegen die anderen“-Mentalität führen, die die Einheit und Zusammenarbeit innerhalb der Gesellschaft gefährdet. Yascha Mounk plädiert hingegen für eine Rückkehr zu universellen Werten wie Gleichheit und Menschlichkeit, die alle Menschen miteinander verbinden, unabhängig von ethnischer, kultureller oder sozialer Herkunft. Kritik übt Yascha Mounk an Extrem-Positionen, konservativen und progressiven Polen, die sich seiner Meinung nach oft zu stark auf Identitätsmerkmale fixieren und dadurch den gesellschaftlichen Diskurs verengen. Er schlägt Ansätze vor, wie Gesellschaften eine Balance zwischen individueller Identität und gemeinsamen Werten finden können, ohne die Vorteile der Vielfalt zu verlieren. Mounk macht das an einer Vielzahl von Episoden und Beispielen aus sozialen Medien plastisch. Beispielsweise mit der Rassentrennung unter einem neuen Deckmantel: Er verweist auf Universitäten in den USA, die sogenannte „Safe Spaces“ schaffen, die nach ethnischen oder kulturellen Kriterien getrennt sind. Obwohl dies gut gemeint sein mag, sieht Mounk darin eine problematische Wiederbelebung der Trennung von Gruppen. Oder auch progressive versus konservative Ansätze. Mounk illustriert, wie sowohl progressive als auch konservative Lager gelegentlich extremistische Positionen einnehmen. Ein Beispiel ist die Verhärtung in Debatten über kulturelle Aneignung oder die Ablehnung von Diversitätsinitiativen. Beide Seiten könnten, so Mounk, von einem Dialog profitieren, der auf universellen Werten basiert. Stärkung demokratischer Werte Yascha Mounk zeigt positive Beispiele von Politikern und Bewegungen, die versuchen, über Gruppengrenzen hinweg universelle Werte wie Gleichheit und Würde zu fördern, etwa Kampagnen für Bürgerrechte oder interkulturelle Dialoginitiativen. Yascha Mounk schlägt vor, den Nationalismus durch einen inklusiven Patriotismus zu zähmen. Er argumentiert, dass es wichtig ist, eine gemeinsame Identität zu fördern, die alle Bürger unabhängig von ihrer ethnischen Herkunft einschließt. Durch die Förderung von kritischem Denken kann Bildung Menschen dazu befähigen, nationalistische Ideologien kritisch zu hinterfragen und sich gegen Propaganda oder extremistische Ansichten zu wehren. Historische Aufklärung kann helfen, die Geschichte des Nationalismus und seine Auswirkungen – sowohl positive als auch negative – zu verstehen. Dies kann dazu beitragen, aus der Vergangenheit zu lernen und extreme Formen des Nationalismus zu vermeiden. Durch die Einbindung von Themen wie kulturelle Vielfalt, Geschichte und globale Perspektiven können Bildungssysteme ein Bewusstsein für die Bedeutung von Inklusion und gegenseitigem Respekt schaffen. Und schließlich kann eine gemeinsame Identität gefördert werden: Bildung kann dazu beitragen, eine inklusive nationale Identität zu schaffen, die auf gemeinsamen Werten und Zielen basiert, anstatt auf ethnischen oder kulturellen Unterschieden. Indem Bildung demokratische Prinzipien wie Gleichheit, Freiheit und Gerechtigkeit betont, kann sie dazu beitragen, Nationalismus in eine konstruktive Richtung zu lenken. Macht und Diskurs nach Michel Foucault Doch zurück zur Identitätssynthese und deren Geschichte. Yascha Mounk diskutiert Michel Foucaults Einfluss auf die moderne Identitätspolitik und betont dessen zentrale Ideen über Macht und Diskurs. Foucaults Konzept, dass Macht nicht nur repressiv, sondern auch produktiv ist, hat die Art und Weise geprägt, wie soziale Strukturen und Identitäten heute verstanden werden. Mounk hebt hervor, dass Foucaults Skepsis gegenüber universellen Wahrheiten und großen Narrativen eine Grundlage für viele der heutigen Debatten über Identität und Macht bietet. Foucault kritisierte die Idee stabiler und essenzieller Identitäten, da er Identität als ein Produkt von Macht- und Diskursstrukturen betrachtete. Für ihn war Identität nicht etwas Festes, sondern etwas, das durch gesellschaftliche Praktiken und Diskurse ständig neu geformt wird. Er argumentierte, dass der Fokus auf Identität oft dazu führen kann, dass Machtverhältnisse und die Mechanismen, die Identitäten formen, übersehen werden. Stattdessen plädierte er für eine kritische Reflexion, die die Prozesse der Subjektivierung und die Rolle von Macht in der Konstruktion von Identitäten hinterfragt. Ausführlich diskutiert Yascha Mounk Widersprüche innerhalb der Ansätze der Identitätssynthese, wie beispielsweise des strukturellen Rassismus, der dauerhaft und unüberwindbar sei und die Standpunkttheorie, die vorgibt, Mitglieder einer Identitätsgruppe könnten die Mitglieder einer anderen Gruppe nicht verstehen oder auch die Intersektionalität, 1989 durch Kimberlé Crenshaw als Ansatz entwickelt, die mehrere überschneidende Kategorien postulierte, aber schließlich doch in der verstärkenden Bedeutung der Opferrolle verharrte. Crenshaw argumentierte, dass diese Diskriminierungen nicht isoliert betrachtet werden können, sondern sich gegenseitig verstärken und komplexe Ungleichheiten schaffen. Karl Marx und die Differenz (zur Identitätssynthese) Yascha Mounk hebt hervor, dass Marxismus und die heutige Identitätspolitik unterschiedliche Ansätze verfolgen. Während Marx sich auf universelle Prinzipien und die Überwindung von Klassenunterschieden konzentrierte, betont die Identitätspolitik oft spezifische Gruppenidentitäten und deren Rechte. Mounk argumentiert, dass diese Fokussierung auf Identitäten manchmal die universellen Werte von Gleichheit und Freiheit untergräbt. Die Identitätssynthese unterscheidet sich grundlegend vom Marxismus, da sie sich auf Gruppenidentitäten wie Geschlecht, Ethnie oder sexuelle Orientierung konzentriert, während der Marxismus den zentralen Konflikt zwischen den Klassen – Arbeiterklasse und Kapitalbesitzer – in den Vordergrund stellt. Die Marxistische Theorie sieht die ökonomischen Verhältnisse als Hauptursache für soziale Ungleichheit und Unterdrückung, während die Identitätssynthese oft kulturelle und soziale Faktoren betont. Ein weiterer Unterschied liegt in der Herangehensweise: Der Marxismus strebt eine universelle Lösung für die Befreiung aller unterdrückten Klassen an, während die Identitätssynthese spezifische Anliegen hervorhebt. Diese unterschiedlichen Perspektiven führen zu einer Trennung zwischen den beiden Ansätzen. Marxistische Kritiker der Identitätssynthese argumentieren oft, dass der Fokus auf Gruppenidentitäten wie Ethnie, Geschlecht oder sexuelle Orientierung von den zentralen ökonomischen Konflikten und Klassenkämpfen ablenkt, die im Marxismus im Vordergrund stehen. Sie sehen die Identitätssynthese als eine Form von kulturellem oder ideologischem Kampf, der die Aufmerksamkeit von der materiellen Basis der Gesellschaft und den Produktionsverhältnissen weglenkt. Zu nennen sind beispielsweise Slavoj Žižek und Vivek Chibber. Žižek kritisiert, dass Identitätspolitik oft zu einer Fragmentierung der Arbeiterklasse führt, während Chibber in seinem Buch "Postcolonial Theory and the Specter of Capital" argumentiert, dass postkoloniale und identitätspolitische Ansätze die universellen Prinzipien des Marxismus untergraben. Zum Schluss: Mounks Definition des Liberalismus Liberalismus beruht auf der Ablehnung einer natürlichen Hierarchie. Liberale glauben nicht, dass Menschen Dank ihrer vornehmen Geburt oder ihrer angeblichen spirituellen Erleuchtung das Recht haben, über andere zu herrschen, sondern sind der Überzeugung, dass wir alle gleich geboren sind. Deshalb bestehen wir auf Institutionen, die es uns erlauben, die Regeln, denen wir gehorchen müssen, selbst zu bestimmen. Diese Regeln müssen jedem von uns die Freiheit zugestehen, nach eigenen Überzeugungen zu leben und Mitgliedern aller Identitätsgruppen versichern, dass die Behandlung, die sie vom Staat erfahren nicht von ihrer Geschlechtsidentität, ihrer sexuellen Orientierung oder ihrer Hautfarbe abhängig ist. Yascha Mounk Mounk, Yascha. Der Zerfall der Demokratie: Wie der Populismus den Rechtsstaat bedroht. Droemer eBook. Kindle-Version. April 2019 Mounk, Yascha: Im Zeitalter der Identität: Der Aufstieg einer gefährlichen Idee. © 2024 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung
von Maximilian Kretzschmar 11. März 2025
Mit "Die Entscheidung" gelingt Jens Bisky eine umfassende kulturwissenschaftliche Perspektive auf die komplexen politischen und sozialen Zusammenhänge der Weimarer Jahre und den Aufstieg der aufstrebenden Nazibewegung
von Maximilian Kretzschmar 15. Februar 2025
Ausgezeichnet mit dem Preis der Leipziger Buchmesse 2023 "Mose ließ die Israeliten vom Schilfmeer aufbrechen. Sie zogen hinaus in die Wüste Schur. Schon drei Tage waren sie in der Wüste unterwegs und fanden kein Wasser. Dann kamen sie nach Mara, wo es Wasser gab. Doch sie konnten es nicht trinken, weil es bitter war. Deshalb nannte man den Ort Mara, das heißt: Bitterbrunnen. Das Volk rebellierte gegen Mose und sagte: "Was sollen wir jetzt trinken?" Da schrie Mose zum Herrn, und der Herr zeigte ihm ein Stück Holz. Mose warf es ins Wasser, und dann konnten die Israeliten es trinken." Aus dem biblischen Buch Exodus stammt diese Geschichte. Darin irrt das Volk Israels verdurstend durch die Wüste und findet schließlich einen Brunnen, dessen Wasser jedoch bitter ist. Nur durch verdorrtes Holz von Wüstenbäumen kann es wieder genießbar gemacht werden. So versucht auch die jüdische Revolutionärin Hertha Gordon-Walcher ihr Leben lang, trotz bitterer Lebensumstände und Enttäuschungen für eine bessere Zukunft zu kämpfen. Bittere Brunnen. Hertha Gordon-Walcher und der Traum von der Revolution von Regina Scheer erzählt die bewegende Lebensgeschichte einer Frau, die ihr ganzes Dasein der Idee einer besseren, gerechteren Welt verschrieben hatte – und dabei immer wieder von den politischen Umbrüchen des 20. Jahrhunderts herausgefordert wurde. Hertha Gordon-Walcher war eine überzeugte Kommunistin, die sich früh für soziale Gerechtigkeit engagierte. Sie kämpfte für die Arbeiterbewegung, erlebte Verfolgung im Nationalsozialismus und setzte sich später in der DDR für ihre Ideale ein. Doch die Realität in der DDR stellte ihre Überzeugungen auf eine harte Probe. Trotz aller Enttäuschungen blieb sie eine leidenschaftliche Kämpferin, die nie aufhörte, nach Wegen zu suchen, um ihre Ideale mit der Realität in Einklang zu bringen. Regina Scheer zeichnet das Porträt einer Frau, die voller Hoffnung und Tatkraft war, aber auch die Schattenseiten einer Revolution erlebte. Sie erzählt von persönlichen Verlusten, politischen Konflikten und der unermüdlichen Suche nach Gerechtigkeit. Bittere Brunnen ist ein tief berührendes Buch über einen lebenslangen Traum – und die oft schmerzhafte Konfrontation mit der Wirklichkeit. Frühe Jahre und Engagement in der KPD Hertha Gordon-Walcher trat bereits 1915 dem Spartakusbund bei. Nach ihrer Tätigkeit als Sekretärin von Clara Zetkin und ihrer Arbeit im Kreml kurz nach der Russischen Revolution kehrte sie nach Deutschland zurück und engagierte sich aktiv in der KPD. In dieser Zeit lernte sie auch ihren späteren Ehemann, Jacob Walcher, kennen, der als KPD-Sekretär in Stuttgart tätig war. Gemeinsam setzten sie sich für die sozialistische Bewegung ein und teilten den Traum von einer gerechten Gesellschaft. Kluge Mitstreiterin von Clara Zetkin Hertha Gordon war 1921 nach Moskau gereist, um am III. Weltkongress der Kommunistischen Internationale teilzunehmen. Dort arbeitete sie als Sekretärin für Clara Zetkin und war in die organisatorischen Abläufe der Kommunistischen Internationale eingebunden. Scheer beschreibt, wie Hertha von der revolutionären Atmosphäre in Moskau inspiriert wurde und diese Erfahrungen ihr politisches Engagement nachhaltig prägten. Hertha Gordon und Clara Zetkin verband eine enge berufliche und persönliche Beziehung, die sich insbesondere während des Ersten Weltkriegs entwickelte. Hertha Gordon unterstützte Clara Zetkin in ihrer politischen Arbeit. In dieser Zeit lernte sie auch Jacob Walcher kennen, der später ihr Ehemann wurde. Aufgrund ihrer gemeinsamen politischen Überzeugungen und Aktivitäten entstand zwischen Hertha Gordon und Clara Zetkin eine tiefe Verbundenheit. Ihre Zusammenarbeit war geprägt von einem intensiven Austausch und gegenseitiger Unterstützung in ihrem Engagement für die sozialistische Bewegung. Die Beziehung zwischen Clara Zetkin und Hertha Gordon basierte auf einer gemeinsamen politischen Vision und war durch enge Zusammenarbeit sowie persönliche Verbundenheit geprägt. Die KPD in den 1920ern - Interne Konflikte und Abspaltung Die KPD war in den 1920er Jahren von internen Spannungen geprägt, insbesondere hinsichtlich der Ausrichtung und Führung der Partei. 1928 übernahm Ernst Thälmann die Führung der KPD, was zu einer stärkeren Unterordnung unter die Direktiven Stalins führte. Diese Entwicklung stieß bei vielen Mitgliedern, darunter Hertha und Jacob Walcher, auf Kritik. Sie lehnten die stalinistische Ausrichtung ab und wurden aus der KPD ausgeschlossen. Gemeinsam mit anderen Gleichgesinnten gründeten sie die Kommunistische Partei-Opposition (KPO), eine linke Abspaltung, die sich gegen die stalinistische Linie stellte. Hertha Gordon-Walcher und ihr Ehemann Jacob Walcher zählten zu den Gründungsmitgliedern der Kommunistischen Partei-Opposition (KPO) und Jacob Walcher wurde Mitherausgeber der KPO-Zeitschrift "Gegen den Strom". "Für Clara wie auch für Hertha war die Partei ein Brunnen, ein nun vergifteter, bitterer Brunnen, an dem sie fast verdursteten. Aber irgendwo musste doch das heilende Gegenmittel sein, vielleicht nur in ihnen selbst. Am 16. Dezember 1928 schrieb Jacob an Hertha, er sei völlig aus dem Gleichgewicht. »Das äußert sich in nervöser Unruhe, in der Unlust, allein zu Hause zu sein, und auf andere Weise.« Am 21. Dezember 1928 wurde er aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen, am selben Tag wie Paul Böttcher, Hans Tittel, Albert Schreiner. Fast alle seiner engen Freunde wurden rausgeschmissen oder gingen von selbst aus der Partei. Minna Flake, Paul Frölich, Rosi Wolfstein, Robert Siewert, August Enderle … Andere, wie Wilhelm Pieck, blieben, duckten sich aus der Schusslinie und gaben Jacob zu verstehen, dass sie ihm persönlich verbunden blieben." Scheer, Regina. Bittere Brunnen: Hertha Gordon-Walcher und der Traum von der Revolution - Ausgezeichnet mit dem Preis der Leipziger Buchmesse 2023 (S.251-252). Penguin Verlag. Kindle-Version. Willy Brandt und die Walchers Im Buch wird die enge Beziehung zwischen Willy Brandt und dem Ehepaar Jacob und Hertha Gordon-Walcher detailliert beschrieben. Jacob Walcher, prominenter Kommunist und Mitbegründer der KPD, war in den 1930er Jahren ein politischer Mentor für den jungen Willy Brandt. Walcher, der seit 1932 im Vorstand der SAPD tätig war, entsandte Brandt nach Oslo, um dort einen Auslandsstützpunkt für die Partei aufzubauen. Hertha Walcher leitete das Auslandsbüro der SAPD und war somit direkt in die politischen Aktivitäten involviert, die Brandts Exil ermöglichten. Nach mehreren Internierungen in Frankreich gelang Hertha und Jacob schließlich die Flucht in die USA. Dort heirateten Hertha und Jacob am 13. Mai 1941 in New York. Jacob arbeitete wieder als Dreher, während Hertha weiterhin politisch aktiv blieb. In den USA pflegten sie Kontakte zu anderen emigrierten Mitgliedern der SAPD und der Kommunistischen Partei-Opposition (KPO). Eine besondere Freundschaft verband sie mit Bertolt Brecht, der sich für ihre politischen Erfahrungen interessierte. Brecht unterstützte das Ehepaar finanziell, was ihnen letztlich die Rückkehr nach Deutschland ermöglichte. Während ihres Exils in den USA hielten Hertha und Jacob Walcher an ihren sozialistischen Überzeugungen fest und setzten sich weiterhin für ihre politischen Ideale ein. Ihre Zeit in den Vereinigten Staaten war geprägt von der Fortführung ihres Engagements im Exil und der Pflege von Netzwerken mit Gleichgesinnten. Die Beziehung zwischen Brandt und den Walchers entwickelte sich von einer engen Zusammenarbeit zu einer allmählichen Entfremdung. Während Brandt sich Mitte der 1930er Jahre vom Stalinismus distanzierte und einen demokratisch-sozialistischen Weg einschlug, blieben die Walchers der sowjetischen Linie treu. Nach dem Zweiten Weltkrieg kehrten beide Parteien nach Deutschland zurück: Brandt in den Westen, die Walchers in die sowjetische Besatzungszone, wo sie am Aufbau der DDR mitwirkten. Diese unterschiedlichen politischen Entscheidungen führten letztlich zum Bruch zwischen Brandt und dem Ehepaar Walcher. Trotz der politischen Differenzen blieb eine persönliche Verbundenheit bestehen. Als die Walchers in der frühen DDR Gefahr liefen, verhaftet zu werden, bot Brandt ihnen einen sicheren Transfer nach West-Berlin an. Dieses Angebot unterstreicht die tiefe persönliche Beziehung, die trotz ideologischer Unterschiede fortbestand. Insgesamt zeichnet „Bittere Brunnen“ ein umfassendes Bild der komplexen und wechselvollen Beziehung zwischen Willy Brandt und dem Ehepaar Walcher, geprägt von gemeinsamen politischen Idealen, persönlichen Bindungen und letztlich divergierenden Wegen in der Nachkriegszeit. Exil und Rückkehr Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs kehrten sie nach Deutschland zurück und traten 1947 der SED bei, um am Aufbau des Sozialismus in der DDR mitzuwirken. Ihre Rückkehr wurde jedoch nicht von allen Parteimitgliedern begrüßt, und sie sahen sich mit Misstrauen und Ablehnung konfrontiert. Walter Ulbricht wird als einflussreicher Politiker der DDR dargestellt, der in den 1950er Jahren maßgeblich die Umgestaltung der SED zu einem straff geführten Instrument seiner Politik vorantrieb. In diesem Kontext wurde Jacob Walcher, der Ehemann von Hertha Gordon-Walcher, 1951 aus der SED ausgeschlossen und als „schlimmster Feind der Arbeiterklasse“ bezeichnet. Diese Ereignisse verdeutlichen die Spannungen zwischen den Walchers und der Parteiführung unter Ulbricht. Kritische Reflexion und Vermächtnis Regina Scheer beleuchtet in ihrem Buch die komplexe Beziehung der Walchers zur KPD und später zur SED. Trotz ihrer unerschütterlichen Hingabe zur „guten Sache“ waren sie oft mit den Entscheidungen und dem Führungsstil der Parteispitze unzufrieden. Ihre Erfahrungen spiegeln die Herausforderungen und Widersprüche wider, denen viele Kommunisten in dieser Zeit gegenüberstanden. Scheers Werk trägt dazu bei, diese ambivalente Geschichte der KPD und ihrer Mitglieder aus einer persönlichen Perspektive zu verstehen und erinnert an die oft übersehenen Beiträge von Frauen wie Hertha Gordon-Walcher in der deutschen Arbeiterbewegung. "Ihr war es so selbstverständlich, Jüdin zu sein, wie ihre Identität als Frau ihr selbstverständlich war. Sie hatte es sich nicht ausgesucht, aber sie war es, und es bestimmte ihre Persönlichkeit. Natürlich glaubte sie, die Religion hinter sich gelassen zu haben, aber Jüdischsein ist mehr als ein religiöses Bekenntnis. Hertha blieb auch als Kommunistin die Tochter von Isaak und Chienka Gordon; wie so viele ihrer Freunde war sie aufgewachsen mit dem Gesetz der Zedakah, der Gerechtigkeit, die ein Tun erfordert. In ihren Kreisen spielte die Herkunft keine Rolle, aber jetzt spürte sie manchmal auch eine ganz persönliche Gefährdung, dachte an die Geschichten des Rabbiners Vogelstein. Die Flut um den Ölzweig stieg." Scheer, Regina. Bittere Brunnen: Hertha Gordon-Walcher und der Traum von der Revolution - Ausgezeichnet mit dem Preis der Leipziger Buchmesse 2023 (S.277). Penguin Verlag. Kindle-Version. 
von Maximilian Kretzschmar 10. Februar 2025
Stuart Halls "Vertrauter Fremder: Ein Leben zwischen zwei Welten" ist ein Mix aus persönlicher Lebensgeschichte und theoretischen Reflexionen seiner Kulturtheorie. Stuart Hall schildert seinen Lebensweg als schwarzer Intellektueller, der zwischen den kulturellen Welten Jamaikas und Großbritanniens navigiert - gespickt mit seinen Einsichten in die Entwicklung der Kulturtheorie und seiner kritischen Sozialwissenschaft. Hall wurde 1932 in Kingston, Jamaika, in eine Familie der unteren Mittelklasse geboren, die von kolonialen Werten und britischer Kultur geprägt war. Seine Vorfahren waren Portugiesen, Inder, Afrikaner und Juden. Die Familie war “farbig”, aber sie versuchten, sich an britische Normen anzupassen, um sich von der schwarzen, ärmeren Bevölkerung abzugrenzen. Dieses Spannungsverhältnis zwischen Rasse, Klasse und Kolonialismus prägte ihn tief. Hall protestierte schon früh gegen die koloniale Macht und trat für die Unabhängigkeit seines Landes ein. 1951 ging Hall als gesellschaftlicher Aufsteiger mit einem Rhodes-Stipendium nach Oxford / Großbritannien als Student und Aktivist und wurde in Großbritannien ein Kulturtheoretiker. Hall erlebte Rassismus und das Gefühl, sowohl als Jamaikaner als auch als britischer Bürger ein Außenseiter zu sein. Während seiner Zeit in Großbritannien engagierte er sich in politischen Bewegungen, insbesondere in der New Left. Sein zentrales Thema wurde so mithin das Konzept der Identität als fluide und hybrid und beeinflusst durch Klasse, Rasse, Kultur und Geschichte. Seine kritische Auseinandersetzung mit der britischen Nachkriegsgesellschaft, die Verbindung des Marxismus mit postkolonialen Theorien und die Betonung von Rasse und Ethnizität sind als Themen besonders relevant für zeitgenössische Gesellschaften der Spätmoderne. Stuart Hall ist Mitbegründer der Cultural Studies. Er analysierte, wie Medien, Politik und Sprache Identitäten konstruieren. Er hinterfragte essentialistische Vorstellungen von Kultur und betonte stattdessen die Hybridität von Identitäten – eine Idee, die seine eigene Lebenserfahrung widerspiegelte. Das ist mithin eine Absage an die führende Rolle des Proletariats und betont stattdessen die große Bedeutung der Massenkultur. Ein zentrales Thema des Buches "Vertrauter Fremder" ist das Konzept der “Diaspora-Identität” – das Gefühl, nie vollständig einer einzigen Kultur oder Nation anzugehören. Hall beschreibt, wie er sich weder vollständig als Jamaikaner noch als Brite empfand, sondern als jemand, der zwischen diesen Welten steht. Vertrauter Fremder ist mehr als eine Autobiografie – es ist eine kritische Reflexion über Kolonialismus, Rassismus, Migration und die Konstruktion von Identität. Halls persönliche Erfahrungen dienen als Ausgangspunkt für tiefgehende theoretische Analysen, die für postkoloniale Studien und Cultural Studies von großer Bedeutung sind. Das Buch ist sowohl eine persönliche Lebensgeschichte als auch eine kritische Analyse der Nachwirkungen des Kolonialismus und der kulturellen Hybridität in einer globalisierten Welt. Stuart Halls Konzept des Encoding/ Decoding Im Jahr 1973 beginnt Hall in seinem Aufsatz "Encoding and Decoding in the Television Discourse" und später in seinem Buch "Culture, Media, Language" (1980) damit, auf semiotischer Grundlage Bücher, Bilder und Filme in einem allgemeinen Konzept des Textverständnisses als polyseme (=mehrdeutige) Texte zu beschreiben. Texte können mit drei verschiedenen Lesarten rezipiert werden: Dominant-hegemonial (das ist die gewünschte, offizielle Lesart), mit einer ausgehandelten (mit einem negotiated code = als Zwischenstufe mit Anteilen der dominant-hegemonialen und der eigenständigen / oppositionellen) und als oppositionell (die widerständige Lesart). Diese drei Typen differenzieren, inwieweit die im Text vorhandene ideologische Position mit der des Rezipienten korreliert und von ihm eingenommen wird. 1. Dominant-hegemoniale Lesart (Preferred Reading) • Der Rezipient akzeptiert die vom Produzenten intendierte Bedeutung vollständig. • Dies geschieht, wenn der Rezipient die gleiche kulturelle oder ideologische Perspektive wie der Produzent hat. • Beispiel: Eine politische Nachrichtensendung lobt eine Regierungsentscheidung, und der Zuschauer, der die Regierung unterstützt, stimmt ihr zu. 2. Aushandelnde (negotiated) Lesart • Der Rezipient akzeptiert einige Teile der kodierten Botschaft, lehnt aber andere Aspekte ab oder interpretiert sie anders. • Diese Lesart ist typisch für Menschen, die sich in Teilen mit der dominanten Ideologie identifizieren, aber gleichzeitig kritisch gegenüber bestimmten Aspekten sind. • Beispiel: Eine Werbung für ein Luxusauto kann die Botschaft vermitteln, dass Wohlstand und Status wichtig sind. Ein Zuschauer könnte dies teilweise akzeptieren, aber dennoch der Meinung sein, dass das Auto zu teuer ist oder dass Umweltaspekte wichtiger sind. 3. Oppositionelle Lesart (Oppositional Reading) • Der Rezipient lehnt die intendierte Bedeutung ab und interpretiert sie auf eine völlig andere, oft kritische Weise. • Dies geschieht, wenn jemand die zugrunde liegende Ideologie einer Botschaft erkennt und sich bewusst dagegen stellt. • Beispiel: Eine Nachrichtensendung stellt eine politische Demonstration als gewalttätig dar, aber ein Zuschauer, der die Demonstration unterstützt, erkennt darin eine bewusste Manipulation der Medien und lehnt diese Darstellung ab. Grundidee des Encoding/Decoding-Modells Hall argumentiert, dass die Bedeutung von Medienbotschaften nicht einfach von Sendern (z. B. Fernsehsendern, Zeitungen) an Empfänger (Zuschauer, Leser) weitergegeben wird. Stattdessen gibt es eine komplexe Beziehung zwischen Produktion, Vermittlung und Rezeption von Medieninhalten. Die Kernidee ist, dass Medieninhalte in zwei Schritten verarbeitet werden: 1. Encoding (Kodierung): Der Produzent einer Nachricht (z. B. eine Fernsehsendung, eine Nachrichtensendung oder eine Werbung) kodiert bestimmte Bedeutungen und Ideologien in die Botschaft. Dabei werden gesellschaftliche Normen, Machtverhältnisse und kulturelle Kontexte in die Darstellung einbezogen. 2. Decoding (Dekodierung): Der Rezipient (das Publikum) entschlüsselt die Botschaft auf Grundlage seines individuellen sozialen, kulturellen und politischen Hintergrunds. Dabei kann die Interpretation der Botschaft stark variieren. Bedeutung des Encoding/Decoding-Modells Halls Modell revolutionierte die Medien- und Kommunikationstheorie, weil es zeigte, dass Medienkonsum ein aktiver Prozess ist. Rezipienten sind keine passiven Empfänger, sondern interpretieren Medieninhalte je nach ihrem sozialen, kulturellen und politischen Kontext. Das Modell hat wichtige Implikationen für: • Medienkritik: Es zeigt, wie Ideologie durch Medien verbreitet wird und wie Menschen sie hinterfragen können. • Werbung und Propaganda: Es erklärt, warum manche Botschaften erfolgreich sind und andere nicht. • Kulturelle Repräsentation: Es zeigt, dass Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen Medien unterschiedlich wahrnehmen, was für Themen wie Rassismus, Geschlechterrollen oder politische Berichterstattung wichtig ist. Quellen: Stuart Hall: Vertrauter Fremder: Ein Leben zwischen zwei Inseln. Argument Verlag mit Ariadne. Kindle-Version: 2020/2022. ders.: Cultural Studies 1983. A theoretical History. Duke University Press: 2016. Oliver Marchart: Cultural Studies. Konstanz: UTB 2008. Rainer Winter: Der produktive Zuschauer. Medienaneignung als kultureller und ästhetischer Prozeß. München: Quintessenz 1995.
von Maximilian Kretzschmar 2. Februar 2025
Die Rede ist von den Abstimmungen am Mittwoch - als mit den Stimmen der AfD ein Antrag der CDU/CSU angenommen wurde - und am Freitag zu dem Gesetzesentwurf der CDU/CSU-Fraktion zur Begrenzung der Migration, als sich sogar Altkanzlerin Angela Merkel öffentlich meldete und den Kandidaten Merz sowie ihre Partei vor den Folgen warnte. Die Mittwoch-Abstimmung bleibt wohl am ehesten mit den feixenden und Selfie schießenden AfD-Abgeordneten im Gedächtnis, wogegen am Freitag unzählige Debattenverschiebungen wegen einberufener Fraktionssitzungen im Gedächtnis haften bleiben - in meinem Gedächtnis. Es ist Wahlkampf, dieses Framing sollte man nicht außer Acht lassen. Gerade weil ich in einer interkulturellen Familie lebe und meine Frau und unsere Tochter schützen muss, sind diese Tage nicht spurlos an mir vorüber gegangen. Das Gedenken an den 80. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz war mit sehr vielen guten Dokumentationen und medialen Gedenkveranstaltungen verbunden. Beeindruckend und konsequent empfand ich in diesem Zusammenhang den Bruch von Michel Friedman mit der CDU, deren jahrzehntelanges Mitglied er war, seit 1983. Friedman brachte es auf den Punkt: Ihm ging es um den Tabubruch. Demokraten verhandeln mit Demokraten. Aber nicht mit einer in Teilen rechtsextremen Partei mit menschenverachtender Ideologie. Das war es, was Mr. Burns alias Friedrich Merz am Mittwoch und schließlich am Freitag -trotz der Warnungen- in den Wind geschlagen hatte. Verantwortungslos.
von Maximilian Kretzschmar 23. Januar 2025
bell hooks argumentiert, dass Klasse eine oft übersehene aber entscheidende Dimension der sozialen Ungleichheit ist. Sie setzt sich kritisch mit der Illusion des amerikanischen Traums auseinander, der suggeriert, dass jede/r durch harte Arbeit sozialen Aufstieg schaffen kann. Hooks zeigt, wie dieses Narrativ bestehende Klassenhierarchien verschleiert und die systematische Marginalisierung bestimmter Gruppen aufrechterhält. "Hätten meine Großeltern – Pächter und Bauern – und meine Eltern – Dienstmädchen und Hausmeister – mir nicht beigebracht, über Klassen und Geld hinwegzusehen, um das innere Selbst zu sehen, hätte ich wahrscheinlich nie gelernt, mich selbst und andere richtig wertzuschätzen. Dieses geteilte Wissen, getragen von ihren Erfahrungen der Versklavung, Knechtschaft und harter Arbeit unter weißer Vorherrschaft im kapitalistischen patriarchalen Süden, haben mir nicht nur dabei geholfen, zu wissen, wo ich stehe, sondern auch standhaft zu bleiben." Das Buch verknüpft persönliche Erfahrungen von hooks mit einer strukturellen Analyse der Klassenverhältnisse. Sie reflektiert über ihre eigene Herkunft aus einer Arbeiterklasse-Familie und den Übergang in akademische und intellektuelle Kreise, wodurch sie selbst zur Mittelschicht aufstieg. Dieser Perspektivwechsel ermöglicht es ihr, die subtilen und offensichtlichen Mechanismen der Klassenpolitik aufzuzeigen, die von kulturellen Praktiken bis hin zu systematischen Diskriminierungen reichen. bell hooks spricht über ihre eigene Erziehung in einer armen, afroamerikanischen Familie und wie diese Erfahrungen ihre Sicht auf die Dinge geprägt haben: "Als ich jung war, lebte ich in einer Welt, in der Armut normal war, aber die Armen nicht als weniger wert angesehen wurden." Besonders eindrucksvoll ist ihre Analyse der Verflechtung von Klasse mit Rasse und Geschlecht. bell hooks zeigt, wie Schwarze Frauen häufig an der Schnittstelle von rassistischen, sexistischen und klassistischen Unterdrückungsmechanismen stehen. Diese intersektionale Perspektive macht das Buch besonders lesenswert für Leserinnen, die die komplexen Dynamiken von Macht und Privilegien verstehen wollen. bell hooks hat einen charakteristischen und zugewandten Stil, der akademische Analyse mit ihrem persönlichen Erzählen verbindet. Dadurch gelingt eine natürliche und mühelose Synergie plastischer und emotionaler Schreibweise. Die Gesellschaftskritik von hooks ist dadurch nahbar, aber auch zeitlos und hochaktuell. Ihre Sprache bleibt einfach und klar, sodass jede Leserschaft unabhängig vom Bildungsstand angesprochen wird. Sie reflektiert kritisch die Verschleierung von Klassenunterschieden in den USA und analysiert, wie Kapitalismus und Konsumgesellschaft die Wahrnehmung von Klasse verzerren. "Wir leben in einer Kultur, die es liebt, Klasse zu leugnen, die den Mythos der Klassenlosen propagiert." Das Buch ist durchgehend von ihrer aktivistischen Haltung geprägt, indem bell hooks nicht nur analysiert, sondern auch Handlungsvorschläge macht: "Wir müssen eine Bewegung aufbauen, die die Verbindung zwischen Rassismus, Sexismus und Klassismus erkennt und bekämpft." bell hooks ist davon überzeugt, dass es notwendig ist, Klassenfragen in den Vordergrund politischer und gesellschaftlicher Diskurse zu rücken. Eines muss natürlich noch einmal klar herausgestellt werden: bell hooks schaffte es aufgrund ihrer akademischen Karriere in den USA in die Oberschicht aufzusteigen; nach dem BA in Stanford 1973 und dem Master in Wisconsin–Madison wurde sie schließlich 1983 an der University of California promoviert und lehrte u.a. an der Yale University; Professuren in New York und Kentucky folgten in den 1990er Jahren. Das reflektiert sie in ihren Schriften. "Während die Menge an Geld, die ich in den letzten zehn Jahren verdient habe, mich als Oberschicht ausweist, identifiziere ich mich nicht mit dieser Klassenpositionierung, auch wenn ich häufig die Klassenmacht genieße, die sie mir bietet. Ich identifiziere mich mit einem demokratischen Sozialismus, mit der Vision einer partizipativen Ökonomie innerhalb des Kapitalismus, die darauf abzielt, Klassenhierarchien infrage zu stellen und zu verändern. Mir gefällt, dass das Geld, das ich verdiene und mich in die wirtschaftliche Oberschicht versetzt, im Dienste der Umverteilung von Reichtum eingesetzt werden kann, und dann dazu beiträgt, das wirtschaftliche Wohlergehen anderer mit Hilfe achtsamer Praktiken des Gebens und Teilens zu verbessern." Ein wichtiges Feld, dem sie sich in ihren cultural studies widmet, ist die Konsumkultur und deren Kritik. Konsumkultur als Verschleierung von Klassenunterschieden Kaufkraft bestimme den Wert einer Person, nicht deren Klasse, postuliert bell hooks. Menschen versuchen, durch den Konsum von Luxusgütern oder Marken ihre Zugehörigkeit zu einer höheren Klasse zu demonstrieren, auch wenn dies nicht der eigenen tatsächlichen finanziellen Situation entspricht. bell hooks kritisiert die Vorstellung, dass jeder durch Erwerb bestimmter Konsumgüter sozial aufsteigen kann: "Konsum wird als Mittel der Klassenmobilität präsentiert, aber in Wirklichkeit verschulden sich viele, um einem idealisierten Bild von Wohlstand zu entsprechen." Diese Schulden führen oft dazu, dass Menschen in ihrer tatsächlichen Klasse gefangen bleiben oder gar zurückfallen, während sie versuchen, den Anschein von Reichtum zu wahren. hooks beschreibt, wie Konsum oft als eine Flucht vor den harten Realitäten des Lebens in einer niedrigeren Klasse genutzt wird: "Für viele ist der Kauf von Gütern ein Weg, um den Schmerz und die Scham der Armut zu betäuben." Sie betont, dass diese Praxis zwar kurzfristig Erleichterung bringen kann, langfristig aber keine Lösung für die grundlegenden Probleme der Klassenungleichheit bietet. hooks Analyse der Konsumkultur ist eng mit ihrer Kritik am Kapitalismus verknüpft. Sie argumentiert, dass das kapitalistische System von der Aufrechterhaltung von Klassenunterschieden profitiert. "Kapitalismus ermutigt uns zu konsumieren, nicht um Bedürfnisse zu befriedigen, sondern um ein Image zu projizieren." Dadurch bleibt die Ungleichheit bestehen, während die unteren Klassen ermutigt werden, ihren Status durch Konsum zu verbessern, was oft zu einem Teufelskreis der Verschuldung führt. bell hooks analysiert auch die Rolle der Medien in der Förderung der Konsumkultur. Sie kritisiert, wie Werbung und Medien die Verherrlichung von Konsum und die Verbindung zwischen Konsum und Glück perpetuieren: "Medien bombardieren uns ständig mit Bildern, die uns suggerieren, dass Glück und Erfolg durch den Erwerb von Dingen erreicht werden." Diese Botschaften tragen dazu bei, dass Menschen ihre soziale Klasse anhand ihres Konsumverhaltens definieren, anstatt auf die tatsächlichen wirtschaftlichen Realitäten zu achten. bell hooks plädiert daher für einen bewussten Widerstand gegen die Konsumkultur und ermutigt die Leser, sich ihrer Werte und Prioritäten bewusst zu werden. "Die Prägung einer konsumkapitalistischen Sozialisierung, die uns alle lehrt, viel auszugeben und wenig wertzuschätzen, so viel wie möglich zu bekommen und so wenig wie möglich dafür zu geben (besser bekannt als Betrug), kann nicht einfach nach Belieben ausgelöscht werden. Es sollte offensichtlich sein, dass wir die Unterdrückung und Ausbeutung von Klassen nicht verändern können, ohne unser aller Verständnis von Geben und Nehmen zu verändern. Klasse ist weitaus mehr, als Geld zu besitzen. Solange wir diese Tatsache nicht begreifen, wird die Vorstellung, dass die Probleme in unser aller Leben, aber insbesondere die der Bedürftigen und Armen mit Geld gelöst werden können, weiterhin den Interessen einer herrschenden, räuberischen Klasse in die Hände spielen, während der Rest von uns zu machtlos und aufgeweicht ist, um noch sinnvolle Veränderungen im Leben aller, und quer durch alle Klassen, herbeizuführen." bell hooks fordert dazu auf, authentische Beziehungen und persönliches Wachstum über den Erwerb von materiellen Gütern zu stellen. "Mein Zugehörigkeitsgefühl zur Klasse und meine Solidarität wird immer mit den Arbeiter*innen sein und mit den Leuten aller Klassen, die Geld dann als nützlich ansehen, wenn es zu unserem Wohlbefinden beiträgt. Die Zeit wird kommen, in der der Reichtum umverteilt wird, in der sich die Arbeiter*innen dieser Welt wieder vereinigen, – um für wirtschaftliche Gerechtigkeit einzustehen –, für eine Welt, in der alle genug haben, um ein erfülltes und gutes Leben zu leben." bell hooks: Die Bedeutung von Klasse: Warum die Verhältnisse nicht auf Rassismus und Sexismus zu reduzieren sind 1. Auflage, Mai 2020, eBook UNRAST Verlag, Juni 2020 © UNRAST Verlag, Münster ISBN 978-3-95405-064-2
von Maximilian Kretzschmar 3. Dezember 2024
Heute war der 2. von 3 freien Tagen - weiterhin mit Schmerzen im rechten Knie durch einen Meniskusriss und einen ausgeprägten Reizzustand der angrenzenden Gelenkkapsel und Reizerguss sowie einer Enthesiopathie der Quadrizepssehne an der Kniescheibe. Wie ich die Schmerzen durchhalte? Mit selbst gekauften Ibuprofen 400 (N3 Packung gekauft), um auf Arbeit die schwere Arbeit mit den Patientinnen und Patienten (Querschnitt zumeist B-Phasen) zu bewältigen. == Dies schrieb ich im September 2024. um genau zu sein, am 27.09.2024, als eine Radiologin nach dem MRT den Befund zu meinem rechten Knie online gestellt hatte. In den Wochen zuvor war die Kommunikation mit ChatGPT für mich konstruktiver als jene mit der Hausarztpraxis. Ich habe die Schmerzen beschrieben, ChatGPT hat daraufhin die möglichen Verletzungen analysiert. Seit Freitag (27.09.2024) habe ich Zugriff auf die MRT-Bilder des Knies und konnte damit selbst die Entzündungen und den Riss lokalisieren. Der Hausarztpraxis lag/ liegt der radiologische Befund bereits seit 20.09.2024 vor. == eine Benachrichtigung (Anruf / eMail) der Hausarztpraxis gab es nicht, so dass davon auszugehen ist, dass ein radiärer wurzelnaher Innenmeniskusriss zum einen a) in einer 40 Stunden Woche in der Krankenpflege auf einer Station von Querschnittsgelähmten und neurologischen Patientinnen und Patienten in der Reha, also mit umfassenden und aufwändigen Vollpflegen und Transfers weiter so zu händeln sei und es gab b) keinerlei Informationen für den hausärztlich betreuten Patienten hinsichtlich einer weiteren Behandlung dieses radiären Risses des Hinterhorns des Innenmeniskus. Das wird wahrscheinlich die Zukunft unseres Gesundheitswesens: Damit wir die 40 Stunden Wochen im Schichtsystem gut durchhalten bis wir vor Rentenbeginn in die Grube fallen, befragen wir die KI und holen uns die Schmerzmittel aus dem Automaten. Die Schmerzmittel Das war also Ende September 2024. Bis dahin hatte ich mich selbst medikamentiert mit den frei erhältlichen Ibuprofen 400 mg und Diclofenac 75 mg: Natürlich mit dem Wissen, dass ich nicht mehr als 2,4 g Ibu pro Tag einnehmen durfte und beim Diclofenac ein PPI wie Pantoprazol als Magenschoner vor dem Verzehr eingenommen werden sollte. Anfang Oktober humpelte ich in die Apotheke, um eine neue N3-Packung Ibuprofen 400 rezeptfrei zu kaufen und erst durch die Apothekerin bekomme ich die Info, dass seit diesem Jahr die Rezepte auf der Chipkarte gespeichert werden. Also gleich am 09.09.24 beim HA-Praxisbesuch, aber ich wusste das nicht und niemand sagte mir das … Die Apothekerin meinte milde: “Ich weiß das auch nur, weil ich hier arbeite”. Die Schmerzen waren ja unvermindert stark und ohne Schmerzmittel gar nicht ertragbar. Zum Frühdienst stehe ich seitdem eine halbe Stunde früher auf, um schnell die Schmerzmedikation einnehmen zu können (natürlich mit Essen) und überhaupt das Knie bewegen zu können. Gerade durch die vielen Tätigkeiten in der Hocke, durch die Kilometer, die auf Station absolviert werden, waren die Schmerzen manchmal unberechenbar. Erst nachdem ich in der Oktoberferienwoche in die Hausarztpraxis fuhr, schrieb mir der Hausarzt eine Überweisung für einen Orthopäden aus. Wahrscheinlich las er den Befund der Radiologin vom 20.09.24 erst zu diesem Zeitpunkt. In der Zwischenzeit habe ich mir oft sprichwörtlich ins Knie gebissen vor Schmerzen, nahm weiterhin die Schmerzmittel, hatte sie auch auf Arbeit griffbereit und bandagierte das rechte Knie, das vor allem auf Kälte sehr sensibel reagierte. Treppen mied ich konsequent. Am 03. Dezember 2024 war ich schließlich bei einem unserer sehr guten Fachärzte der Klinik, der mir Rezepte für eine Orthese und Schuheinlagen sowie eine Physiotherapie für den Innenmeniskusriss ausstellte, nachdem er die MRT ausgewertet hat und zusätzlich Ultraschall-Auswertungen aufgrund des Befundes vom 20.09.24 angefertigt hatte. Mittlerweile habe ich die kontinuierliche Gabe von Tramadol 100 mg nur für den Bedarf eingeschränkt, trage eine Bandage zur Stabilisation des Knies und zum Wärmen (weil das Knie bei Kälte, gerade bei kalten Patientenzimmern, mit Blockade droht) und versuche, das Knie sooft wie möglich in unserer Freizeit zu schonen. Vitamine und Mineralien für Knorpel, Knochen und Muskeln Mittlerweile nehme ich das Nahrungsergänzungsmittel MSM ein (2 Gramm pro Tag), das als Methylsulfonylmethan mit Vitamin C in Deutschland noch keine Freigabe als Medikament erhalten hat, aber für die Regeneration von Knorpel empfohlen wird; ich nehme Glucosamin mit Kupfer und Mangan zu mir und als Brausetabletten Kalzium, Kalium und Magnesium, um Muskeln, Knochen und Knorpel zu stärken. Weiterer Nebeneffekt sind die Pluspunkte für Haut und Haare, die allesamt dem Schwefel, den Spurenelementen und Vitaminen zugeschrieben werden (Wenn's scheen macht ... würde Else Kling sagen). Auch hier nahm ich Rücksprache mit ChatGPT, das vor allem Vitamin D3 in Verbindung mit K2 empfahl: D3 wirkt entzündungshemmend und fördert die Kalziumaufnahme und unterstützt die Knochenstruktur, die den Meniskus umgibt. Das Vitamin K2 wiederum ist wichtig für die Synergie mit D3 und sorgt für die effektive Nutzung des Kalziums in Knochen und Geweben. Vitamin K spielt bei der Produktion von Knorpelmatrix eine Rolle - inwiefern dies klinisch relevant ist, wird noch in Studien getestet. Mittlerweile kann ich wieder Fahrrad fahren (yes!), was ja auch nicht mehr möglich war. Zur Landtagswahl am 01. September wollte ich mit dem Fahrrad zum Wahllokal fahren - es war völlig unmöglich. Illusorisch ist es zu glauben, mit einem Beruf der Carearbeit in irgendeiner Weise "geschützt" oder "immun" zu sein, um diese Fürsorgearbeit für Patientinnen und Patienten zu bewältigen. Das war der Punkt, der mich zum Grübeln brachte - denn im Sommer arbeitete ich an mindestens sechs Wochen hintereinander ohne im entferntesten daran zu denken, dass diese Knieschmerzen sofort behandelt werden müssen. Das hängt meines Erachtens auch mit erlernten sozialen Rollen unserer Generation zusammen. Wenn der Hausarzt im September fragte, warum ich nicht schon früher gekommen sei. Ganz einfach: Weil wir unterbesetzt waren. "Das zählt nicht mehr", antwortete er.
In Matala am Strand skizziert.
von Maximilian Kretzschmar 26. November 2024
Ein paar neue Seiten gibt es: Salate, Suppen, Desserts und Hauptgerichte. Und ein Javascript ontouchstart erleichtert die Bedienung bzw. Steuerung der Sidebar auf IPhones.
von Maximilian Kretzschmar 20. November 2024
Das heute medial besprochene neueste Schulbarometer der Robert Bosch Stiftung in Zusammenarbeit mit der Universität Leipzig kommt deshalb zur rechten Zeit: Die renommierte Stiftung führte eine repräsentative Umfrage unter Schülerinnen und Schülern und Eltern durch, um künftig in einer jährlich evaluierten (Panel)Studie die aktuelle Stimmungslage und aktuelle Herausforderungen im Bildungsbereich zu eruieren und frühzeitig negative Entwicklungen zu beschreiben. Im Fokus dieser brandaktuellen Studie steht das psychische und schulische Wohlbefinden von Kindern (8-10 Jahre) und Jugendlichen (11-17 Jahre) und ihren Erziehungsberechtigten in Deutschland, die von der Stiftung als zu häufig vernachlässigte Akteursgruppe bezeichnet wird - in meinen Augen und aus eigenen Erfahrungen völlig zu recht. Darüber hinaus stehen im Fokus: Einschätzung der Unterrichtsqualität und der Beziehungsqualität zu den Lehrkräften, psychosoziale Hilfsangebote sowie Barrieren an Schule. Von ihren Erziehungsberechtigten werden wir neben umfangreichen soziodemografischen Daten auch ihre Einschätzung zum psychischen und schulischen Wohlbefinden ihrer Kinder sowie zu psychosozialen Versorgungsstrukturen inner- und außerhalb von Schule erfassen. Quelle: https://www.bosch-stiftung.de/de/projekt/das-deutsche-schulbarometer/schuelerinnen Erfasste Konstrukte waren hierbei: - Psychische Auffälligkeiten - Einschätzung der Lebensqualität - Aktuelle Sorgen und Belastungen - Schulisches Wohlbefinden - Bewertung der Schule - Bewertung der Unterrichtsqualität - Klassenleitungsstunde - Unterrichtsausfall - Hilfesucheverhalten - Einstellungen, Barrieren und Wissen zu psychischer - Gesundheit und Hilfsangeboten "Wohlbefinden und Verhalten, Schule und Unterricht, Hilfebedarfe und Hilfsangebote: Ein Schwerpunkt der Studie: der Zusammenhang zwischen Unterricht und psychischer Gesundheit. Zentral für das schulische Wohlbefinden, so die Ergebnisse, sind die konstruktive Unterstützung durch die Lehrkräfte und eine gute Klassenführung. Doch gerade hier gibt es Luft nach oben: Viele Schüler:innen berichten von häufigen Unterrichtsstörungen und dass die Mehrheit der Lehrkräfte nicht nachfragt, was man schon verstanden hat und was noch nicht. Die Studie beleuchtet auch, wie die Erziehungsberechtigten mit dem Thema psychische Gesundheit umgehen und welche Hilfsangebote sie für ihr Kind in Anspruch nehmen. Dabei zeigt sich, dass bis zu einem Drittel der Eltern die Hilfestrukturen an der Schule ihrer Kinder nicht kennen." Demnach berichten 41 % der Schülerinnen und Schüler, dass keine oder nur wenige Lehrkräfte überhaupt nachfragen, was bereits verstanden wurde oder noch nicht verstanden wurde. 83 % der Schülerinnen und Schüler berichten von häufigen Unterrichtsstörungen. Ergänzende Hilfestrukturen sind hier beispielsweise Schulsozialarbeiterinnen und -arbeiter auch in Grundschulen und Gymnasien. Dresden hat solche Strukturen sukzessive in den vergangenen Jahrzehnten vor allem auch durch eine rot-rot-grüne Stadtpolitik von Linken, SPD und Grünen auf- und ausgebaut. Besorgniserregend ist zudem der gewachsene Leistungsdruck für die SuS und das immer noch unterhalb des Vor-Corona-Niveaus liegende Wohlbefinden der Kinder und Jugendlichen. Ein Viertel der Jugendlichen schätzt die eigene Lebensqualität als gering ein. Zwei Drittel bewerten sie als mittel und nur sechs Prozent als hoch. Ungefähr ein Fünftel der Schüler:innen bezeichnet sich selbst als psychisch belastet. Ebenso viele klagen über ein geringes schulisches Wohlbefinden, bei Kindern aus Familien mit niedrigem Einkommen sogar knapp jedes Dritte. Die Kriege in der Welt, der Leistungsdruck in der Schule, die globale Klimakrise und die Ängste vor der eigenen Zukunft bereiten ihnen die meisten Sorgen. https://www.bosch-stiftung.de/de/storys/kriege-leistungsdruck-und-klimakrise-belasten-schuelerinnen Zitate aus: Robert Bosch Stiftung (2024). Deutsches Schulbarometer: Befragung Schüler:innen. Ergebnisse von 8- bis 17-Jährigen und ihren Erziehungsberechtigten zu Wohlbefinden, Unterrichtsqualität und Hilfesuchverhalten. Robert Bosch Stiftung. Die Petition zur Unterstützung der Schulsozialarbeit an Dresdner Schulen gegen "die Liste der Grausamkeiten" von OB Dirk Hilbert kann hier unterzeichnet werden: https://www.dresden.de/de/leben/gesellschaft/buergebeteiligung/epetition.php?extForwardUrl=https%3A//apps.dresden.de/ords/f%3Fp%3D1610%3A3%3A%3A%3ANO%3A%3AP3_P_ID%3A23430
von Maximilian Kretzschmar 9. November 2024
Sehr unterschiedlich waren die Berufszugänge in der DDR und der Bundesrepublik Deutschland. Bereits in den 1950er Jahren wurde in der DDR die Krankenpflege in das Berufsausbildungssystem übernommen, während die Krankenpflegeschulen im Westen an Krankenhäuser angegliedert waren und über Schwesternwohnheime verfügten. Der Zugang zu den Schwesternheimen und zur Ausbildung blieb Männern im Westen verwehrt. 1965 wurde in der BRD ein Krankenpflegegesetz eingeführt, mit welchem auch die Pflegeausbildung an internationale Standards angepasst wurde, indem sie auf drei Jahre verlängert wurde. Der Beginn in Westdeutschland Am 28.09.1938 war im Dritten Reich das "Gesetz zur Ordnung der Krankenpflege" reichsweit in Kraft getreten, das nach 1945 nicht automatisch seine Gültigkeit verloren hatte. Die Ausführungen und Ausbildungsinhalte mit NS-Ideologie wurde lediglich gestrichen. Die Nazis hatten die Ausbildungszeit von zwei auf eineinhalb Jahre verkürzt, um genügend Pflegepersonal für den kommenden Krieg zu rekrutieren. Im Dezember 1942 wurde diese Ausbildungsverkürzung zurückgenommen, es entfiel danach das berufspraktische Jahr nach bestandener Prüfung. Bis 1957 gab es in der Bundesrepublik insgesamt 16 unterschiedliche Gesetze und Verordnungen zur Krankenpflegeausbildung. Zwischen 200 bis 300 Stunden Theorie in staatlich anerkannten Krankenpflegeschulen umfasste die weiterhin zweijährige Ausbildung. Zugangsvoraussetzungen waren ein Volksschulabschluss und ein einjähriges hauswirtschaftliches Praktikum. Im Juli 1945 hatte sich die Berufsorganisation der Krankenpflegerinnen Deutschlands wiedergegründet, die sich 1938 aufgelöst hatte. Nun firmierten sie unter dem Namen von Agnes Karll als Berufsverband, der sich stark für eine Reform der Ausbildung einsetzte. Deren Forderungen wurden vom Gesetzgeber ignoriert. 1949 wurde ein Ausschuss der Länder gegründet, um einen Gesetzesentwurf zur Neuordnung der Krankenpflege vorzubereiten. Der Agnes-Karll-Verband votierte für eine dreijährige Ausbildung und für die Einrichtung von Pflegevorschulen, von denen es vereinzelt in den Ländern ein paar gab. In diesen Vorschulen sollte die Allgemeinbildung von Volksschülerinnen vertieft werden und damit auch das hauswirtschaftliche Jahr ersetzt werden. Eine einheitliche Regelung zu diesen Vorschulen konnte nie erreicht werden. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts ist vom Personalmangel in der Pflege die Rede. Höherqualifizierung des Berufes zur Steigerung seiner Attraktivität gehörte vor allem von Seiten der Berufsverbände zu den Vorschlägen. Gegner dieser Linie waren Vertreter der konfessionellen Krankenpflege mit ihrem tradierten Pflegeverständnis (der Barmherzigkeit), Gewerkschaften wollten weiterhin Personen mit niederen Schulabschlüssen nicht den Zugang verwehren und der Gesetzgeber zeigte wenig Initiative, die Ausbildungsstruktur in der Krankenpflege zu ändern. Über Jahrzehnte wurden so durchgreifende Ausbildungsreformen ausgebremst. Hauptargument war, dass eine Höherqualifizierung und höhere Zugangsvoraussetzungen den Kreis der Bewerber einschränken würde. Doch es gab auch viele Gegner einer Verlängerung der Ausbildung, die mit der gravierenden Personalnot argumentierten. Diese Personalnot führte auch dazu, die Forderung nach dem Schutz der Ausbildung der Krankenpflege abzulehnen. Denn so wäre eine abgeschlossene Berufsausbildung Voraussetzung für die Tätigkeit in der Pflege gewesen und hätte das Ausscheiden von Tausenden aus der Pflege bedeutet. Der zweijährige Lehrgang, dem sich ein einjähriges Praktikum anschloß, fand in einem von permanentem Personalmangel geprägten Krankenhaus statt. Bei in der Regel geteiltem Dienst war die Arbeitszeit von 6.00 bis 13.00 Uhr und von 16.00 bis 20.00 Uhr bzw. so lange, bis die Arbeit fertig war. Schülerinnen wurden bevorzugt in den Mittagsdienst eingeteilt. Der theoretische Unterricht (ca. 300 Stunden) fand oft zu unregelmäßigen Zeiten des Tages statt; vor dem Examen gab es auch Unterrichtsnachmittage. Die Arbeit der Schülerinnen war so organisiert, daß ihre Abwesenheit auf der Station möglichst keine Lücken hinterließ. Vier Wochen alleiniger Nachtdienst (20.00 bis 6.00 Uhr) im Turnus von ca. vier Monaten war für die Schülerinnen üblich. Schülerinnen im Nachtdienst waren bei dem Unterricht am Nachmittag zur Teilnahme verpflichtet. Die Schule selbst hatte keine für die Ausbildung der Schülerinnen freigestellte Unterrichtsschwester. Die Oberschwester übernahm diese Aufgabe mit. Ein Chefarzt war der Leiter der Schule, der Arztunterricht hatte Vorrang vor dem Pflegeunterricht. Ruth Elster: Der Agnes Karll-Verband und sein Einfluss auf die Entwicklung der Krankenpflege in Deutschland. DBfK: 2003, S. 60 Nach der Abschlussprüfung wurden die Schwestern als examinierte Fachkräfte eingesetzt. Es dauerte bis 1957, bis am 15. Juli das Gesetz über die Ausübung des Berufs der Krankenschwester, des Krankenpflegers und der Kinderkrankenschwester verabschiedet wurde. Gesetz über die Ausübung des Berufs der Krankenschwester, des Krankenpflegers und der Kinderkrankenschwester vom 15. Juli 1957 Erstmals wurde die Kinderkrankenpflege in dieses Gesetz einbezogen und die sogenannte Geisteskrankenpflege, die in den Krankenpflegegesetzen von 1906 und 1938 noch nicht benannt worden war, ebenfalls. Grundlegend war die Erhöhung der Ausbildungsjahre auf drei Jahre. In der Praxis sah es allerdings so aus, dass die Prüfung nach dem zweiten Ausbildungsjahr erfolgte und im dritten Ausbildungsjahr lediglich ein obligatorisches Praktikum ohne theoretischen Unterricht vorgesehen war. Betont werden muss trotz dieses Gesetzes, dass in der Bundesrepublik die Krankenpflegeausbildung nicht in das bestehende Ausbildungssystem eingebunden war, so dass das Berufsbildungsgesetz nicht zur Anwendung kam und es somit keine duale Ausbildung in der Krankenpflege gab. Krankenpflegeschulen hatten einen Sonderstatus als "Schulen des Gesundheitswesens" und beispielsweise mussten Lehrkräfte keine Lehramtsbefähigungen oder Lehramtsprüfungen vorweisen. Der Unterricht wurde von vormals 200 oder 300 Stunden auf 400 Stunden theoretischen Unterricht erhöht. Symptomatisch war dies für die weiterhin geringe Bedeutung der Theorie für die Krankenpflege. Zu den wichtigsten Befürwortern einer höher qualifizierten Krankenpflegeausbildung gehörten diee Vertreterinnen der Schwesternschule der Universität Heidelberg. Bereits im Sommer 1946 organisierte die amerikanische Militärregierung eine Unterredung zum Thema der Errichtung einer Schwesternschule: Voraussetzung der Schulaufnahme sollte ein mittlerer Schulabschluss darstellen, dem man große Beachtung schenkte, denn dieser sollte das Niveau anheben. Lehrkräfte sollten mindestens über ein Abitur verfügen. Finanziert werden sollte diese Schule durch die Rockefeller Foundation, die ähnliche Einrichtungen bereits in der Schweiz finanzierte. Voraussetzung war zudem, dass der Lehrplan die öffentliche Gesundheitsfürsorge berücksichtigen sollte. Außerdem sollten die zukünftigen Mitglieder des Lehrkörpers durch Stipendien der Rockefeller Foundation unterstützt werden, um sich in einem internationalen Umfeld auf hohem Niveau weiterqualifizieren zu können. Schwere Gegenwehr gab es für dieses Vorhaben aus Schwesternverbänden, welche die bisherige Ausbildung für ausreichend ansahen und eher in spezialisierten Weiterbildungen den akuten Mangel feststellten. Mittels Kompromisses löste man diesen Dissens: Man konzipierte stattdessen eine zweijährige Ausbildung, an die sich ein drittes freiwilliges Jahr anschloss, in welchem Schülerinnen in Gemeindepflege, Kinder- und Säuglingspflege oder Geisteskrankenpflege Spezialisierungen abschließen konnten. Die Rockefeller Foundation und der Schwedische Schwesternverband lobten hierfür Stipendien aus und für den Schulbesuch wurde ein Schulgeld erhoben. Im ersten und zweiten Lehrjahr sah der Lehrplan insgesamt 612 Schwestern und 476 Arztstunden vor; die Lernschwestern wurden nicht als Arbeitskräfte gezählt und sie bekamen eine Lehrschwester, die ihnen praktische Anleitung gab und sie kontrollierte. Die Eröffnung dieser Universitäts-Schwesternschule in Heidelberg fand am 29. Mai 1953 statt, 75 Schülerinnen wurden beschult. Im Jahr 1958 führte auch die Schwesterschule der Arbeiterwohlfahrt in Marl (Nordrhein-Westfalen) die dreijährige Ausbildung ein: Mit einem theoretischen Unterricht von 1,200 bis 1.400 Stunden im Blocksystem und praktischen Schulungen. Im Jahr 1962 schließlich eröffnete der Agnes Karll-Verband zusammen mit der Stiftung Hospital zum heiligen Geist eine staatlich anerkannte Krankenpflegeschule in Frankfurt am Main mit ca. 1.200 Stunden theoretischer Ausbildung. Zur gleichen Zeit wurde eine kommunale Einrichtung in München eröffnet, das städtische Ausbildungsinstitut für Krankenpflege startete mit 180 Ausbildungsplätzen und einer dreijährigen Ausbildung. Keine Ruhe gaben verschiedene Organisationen, in denen sich vor allem Krankenschwestern um politische Mitsprache bemühten, bezüglich einer Professionalisierung und Vereinheitlichung der Ausbildung in der Bundesrepublik. Die Deutsche Schwesterngemeinschaft (DSG) machte "Vorschläge zur Ausbildungsordnung zum Gesetz über die Ausübung des Berufs der Krankenschwester, des Krankenpflegers und der Kinderkrankenschwester", welche im Jahr 1962 der Regierung unterbreitet wurden. Die Forderungen lauteten u.a.: Eine dreijährige Ausbildung einzuführen, Verzicht auf die Zählung von Arbeitskräften während der Ausbildung, eine hauptamtliche vorgebildete Unterrichtsschwester pro Ausbildungsstätte für je 30 Schülerinnen und 1964 wurde schließlich noch die Forderung hinzugefügt, mindestens 1.500 Theoriestunden, d.h. ein Drittel der Ausbildungszeit festzuschreiben. Am 20. September 1965 wurde schließlich das Gesetz zur Änderung des Krankenpflegegesetzes, als neues Krankenpflegegesetz verabschiedet. Zuvor hatten die politischen Parteien im Bundestag über verschiedene Kontroversen gestritten, so lehnten die Fraktionen der Regierungsparteien von CDU/CSU gemeinsam mit der FDP den Schutz der Berufsausübung und die gesetzliche Gewährleistung beruflicher Fortbildung ab. Den Antrag für die umfassende Reformierung der Krankenpflege hatte die SPD im Jahr 1963 gestellt. Eine dreijährige Ausbildung, ein mittlerer Bildungsabschluss als Zugangsvoraussetzung, bezahlte Fortbildungen und die Ermöglichung des beruflichen Aufstiegs, die Konzeption einer einjährigen Ausbildung mit geringen Anforderungen und den Schutz der Berufsausübung beinhaltete dieser Antrag. Schwerpunkte des Gesetzes zur Änderung des Krankenpflegegesetzes Mittlerweile hatten einige Bundesländer, wie Berlin und Hessen, die Volksschulbildung auf zehn Jahre erhöht - hierzu liefen Modellprojekte in den Ländern. Deshalb hieß es nun in diesem neuen Bundesgesetz, dass eine abgeschlossene Realschulbildung oder eine entsprechende Schulbildung oder eine "andere abgeschlossene zehnjährige Schulbildung" Zugangsvoraussetzung sei. Für Absolventen der neunjährigen Volksschulausbildung musste sich nun zwangsläufig erst eine abgeschlossene Berufsausbildung anschließen oder die Zulassung an einer dreijährigen Pflegevorschule erfolgen. Die Übergangsregelungen waren noch bis zum Jahr 1974 gültig. Die Ausbildung dauerte nun drei Jahre mit mindestens 1.200 Stunden Theorie und 100 Vertiefungsstunden. Als Abschlusskriterien wurden neu definiert: Eine dreistündige Abschlussarbeit, eine mündliche Prüfung und davor einen Bericht über eine zweitägige Pflege, der durch einen Arzt bestätigt wurde. Neu eingeführt wurde die einjährige Ausbildung für Krankenpflegehelferinnen und -helfer, um dem notorischen Pflegenotstand zu begegnen. Damit ging in der Krankenpflege eine Trennung der Grund- und Funktionspflege einher. Dieses Gesetz war schließlich 20 Jahre in der Bundesrepublik in Kraft. In der Zwischenzeit hatte es mehrere Regierungswechsel gegeben und es wurde die Frage diskutiert, ob die Ausbildung an einer Berufsfachschule stattfinden sollte oder nach dem Berufsbildungsgesetz geregelt werden sollte. In den 1970er Jahren wurde darüberhinaus auch über die Finanzierung der Ausbildung gestritten durch die Kostendämpfungsgesetze (Krankenhausfinanzierungsgesetz 1972, Erlass der Bundespflegesatzverordnung 1973). Im Sommer 1985 wurde schließlich das Gesetz über die Berufe in der Krankenpflege eingeführt. Ab diesem Zeitpunkt gab es für die Auszubildenden eine verbindliche Ausbildungsvergütung und einen Ausbildungsvertrag mit dem Träger der Ausbildung, der verbindliche Optionen beinhalten musste. Krankenpflegeschulen wurden nun per Gesetz wieder zu Berufsfachschulen besonderer Art institutionalisiert - zwischen dualer und schulischer Ausbildung. Zwar hatten sich politische Parteien in den 1970er Jahren an dem Berufsbildungsgesetz orientiert, dennoch verhinderten besonders die konfessionellen Krankenhausträger die Gleichsetzung der Krankenpflege mit anderen Berufen. Gegen den Deutschen Berufsverband für Krankenpflege (DBfK), der für die Einrichtung von Berufsfachschulen eintrat und mit den Gewerkschaften für die Eingliederung in das duale System aussprach. Die Regierung folgte den konfessionellen Trägern, weil dadurch die Gleichstellung der Lehrkräfte zu den Pädagoginnen der allgemeinbildenden und berufsbildenden Einrichtungen vermieden werden konnte. Beispielsweise sprach sich der Deutsche Städtetag gegen die Einbeziehung aus und argumentierte mit den anfallenden Kosten für den Schulträger. Die Unterrichstunden der Theorie wurden auf 1.600 Stunden erhöht, hinzu kamen 100 Stunden zur Vertiefung einzelner Fächer. Erstmals gab es einen Positiv-Katalog, in welchem die Zielsetzungen für die Ausbildung festgelegt wurden. Dadurch kam es zu den Festlegungen, welche Aufgaben ausgebildeten Pflegefachpersonen obliegen. Geblieben waren die niedrigen schulischen Zugangsvoraussetzungen, entgegen den Forderungen von ProtagonistInnen der Krankenpflege, die auf eine Professionalisierung des Berufes drangen. Als Ausbildungsziel wurde lediglich festgelegt, dass eine "verantwortliche Mitwirkung bei der Verhütung, Erkennung und Heilung von Krankheiten erfolge". Dabei durften Pflegende nur auf ärztliche Anordnung hin tätig werden und tragen lediglich die Verantwortung für deren fachkundige Umsetzung. Als 'Heilhilfsberuf' bezeichnet, wird so pflegerisches Tun auf handwerkliches Handeln reduziert, in dem eigenständiges Denken und Handeln nicht vorgesehen sind. Syvelyn Hähner-Rombach, Pierre Pfütsch (Hrsg.): Entwicklungen in der Krankenpflege und in anderen Gesundheitsberufen nach 1945. Marbuse-Verlag: 2018, S. 160
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